Volltext: Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen, Fortsetzung (6)

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Walter Brix. 
analoge Nachweis, der in diesem Falle übrigens noch leicht bei¬ 
zubringen ist — denn man braucht ja nur zu zeigen, dass die 
formalen Gesetze der messenden Größenverknüpfung mit denen der 
Bruchrechnung übereinstimmen — fehlt vollends bei den Irrationali¬ 
täten. Diese waren ebenfalls rein formal durch unanschauliche Ba- 
dicirungen gewonnen, erlangten aber trotzdem ziemlich schnell das 
Bürgerrecht. Denn die Inder kannten dieselben nur in der Form 
von Quadrat- und höchstens Cubikwurzeln. und diese waren ja 
immer leicht geometrisch als Seiten von Quadraten oder Cuben zu 
interpretiren. 
So blieb den Indem der Gegensatz zwischen nominalistischer 
Entstehungsweise und unbewusst postulirter realer Bedeutung bei 
den Brüchen und Irrationalzahlen völlig verborgen. Ein glücklicher 
logischer Leichtsinn brachte es mit sich, dass eine weitausgebildete 
Bechnungsart, angewandt auf Gebiete, für welche sie eigentlich 
gar nicht definirt war, Besultate zeitigen konnte, die in ihrer Frucht¬ 
barkeit und Allgemeinheit weit über den Kreis der construirenden 
griechischen Mathematik hinausgingen. Um so unsicherer blieb da¬ 
gegen der Begriff der negativen Zahlen. Denn diese treten von 
Anfang an als etwas ganz heterogenes auf. Zwar gelang es schlie߬ 
lich in speciellen Fällen, negative Zahlenverhältnisse auch in der 
Welt der Anschauung nachzuweisen, wie z. B. in dem Gegensatz 
von Vermögen und Schulden oder in der zweifachen Bichtung einer 
Geraden — denn auch diese Interpretation war den Indern schon 
bekannt — aber solche Beziehungen ergaben sich nicht aus der Natur 
der Sache und mussten erst mühsam gesucht werden. Deshalb 
werden in der Begel die negativen Lösungen einfach verworfen, 
häufig genug mit einer so mangelhaften Motivirung, wie der Bhäs- 
kara’s: »gewöhnlich lässt man keine negativen Lösungen zu«1). 
Dieses Schwanken zwischen Dulden und Wegwerfen der nega¬ 
tiven Zahlen, die außerordentliche Unsicherheit in der begrifflichen 
Handhabung derselben im Gegensatz zu der hohen Ausbildung der 
algebraischen Bechnung, das unverkennbare Misstrauen gegen alles 
Negative, das sich deutlich der indischen und der ganzen, von ihr 
abhängigen arabischen und christlich-mittelalterlichen Arithmetik 
1) Vgl. Hankel, Geschichte der Mathematik S. 194.
	        
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