Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen. 135
Diese aber sind in der Erfahrung nirgends gegeben, zwei Größen
sind niemals genau einander gleich1).
So ist Mill also im Wesentlichen zu den Anschauungen von
Hobbes zurückgekehrt. Der Unterschied beider besteht nur darin,
dass Hobbes, ähnlich wie Leibniz, einen vollständigen Paral¬
lelismus von mathematischen und empirischen Begriffen annahm,
Mill aber diesen zu einem immanenten Monismus zusammenschmilzt.
Während also bei Hobbes eine selbständige Existenz beider Be¬
griffsklassen wohl denkbar war, aber andererseits doch wieder nicht
recht in den Empirismus hinein passte, sind sie bei Mill unlöslich
mit einander verbunden. Der Parallelismus, den Hobbes seinem
System zu Liebe künstlich festsetzen musste, wird dadurch unnöthig.
Denn bei Mill sind Erfahrungsthatsache und mathematische Form
gewissermaßen nur zwei Seiten eines und desselben Dinges. Die
Größenbeziehung ist die Vorstellung der Zahl, die Zahl der be¬
griffliche Ausdruck der Größenbeziehung2). Wie deshalb die Geo¬
metrie die Lehre von den räumlichen Eigenschaften der Körper sein
soll, so ist die Arithmetik die Wissenschaft von den Beziehungen
der Größen, d. h. das begriffliche Schema für die in Wahrheit in-
commensurablen Verhältnisse der Erfahrung.
Die Grundlage der Arithmetik bilden ferner einerseits die
Zahlenaxiome, welche er von den neun koivcüg Ivvolcuq Euklid’s
auf zwei reduciren will, nämlich : »Dinge, welche einem und dem¬
selben Dinge gleich sind, sind einander selbst gleich« und »Gleiches
zu Gleichem addirt gibt gleiche Summen«3), und andererseits die
Definitionen der verschiedenen Zahlen. Da diese rein wissenschaft¬
liche, von den erkenntnisstheoretischen Fragen mehr absehende Be¬
handlung dieses Gegenstandes uns hier am meisten interessiren
muss, mag die betreffende Stelle hier wörtlich folgen4) :
»Wie andere sogenannte Definitionen, so sind dieselben aus
1) Vgl. Book II, chap. VI, § 3.
2) All numbers must be numbers of something: they are no such things as
numbers in the abstract. Ten must be ten bodies, or ten sounds, or ten beatings
of the pulse. But though numbers must be numbers of something, they may be
numbers of anything. Book II, chap. VI, § 2.
3) Vgl. Book III, chap. XXIV, § 5.
4) Ich entnehme diese Stelle der Bequemlichkeit wegen der deutschen Ueber-
setzung von Schiel (vierte Auflage, Braunschweig 1887) in demselben Paragraphen,