Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen. 125
Verwendung an einigen Beispielen zu zeigen, wobei er freilich noch
formale Fehler macht, und die Bemerkung hinzuzufügen, dass er
die ganze Frage des Imaginären wegen ihrer Complicirtheit für
überflüssig halte1), offenbar nur eine bequeme Ausflucht, um der
Schwierigkeit zu entgehen.
Hatte aber Cardan dem Banne der realistischen Anschauung
sich nicht völlig zu entreißen vermocht, so hat doch sein Zeit¬
genosse, der deutsche Algebrist Michaël Stifel — und dies ist
um so bemerkenswerther, als er für lange Zeit der einzige blieb,
der die Algebra thatsächlich ganz formalisirte — den letzten Schritt,
die definitive Lösung von der Anschauung, wirklich ausgeführt.
Denn, ohne sich freilich auf das ihm noch unbekannte Imaginäre
einzulassen, räumt er den numeris fictis, zu welchen er die nega¬
tiven Zahlen und — ein für jene Zeit ganz außerordentlicher Fort¬
schritt — die Brüche rechnet2), die volle Gleichberechtigung mit
den numeris veris ein. Ueberhaupt ist er sowohl nach der ganzen
Behandlungsweise, wie nach den im ersten Buch seiner Arith-
metica integra niedergelegten Grundansichten wirklich als der erste,
leider ganz vereinzelte Vertreter des positiven Nominalismus anzu¬
sehen ; und sein Grundsatz : Permittendum esse Arithmeticis, ut,
dum bona ratione et utili consilio aliquid fingünt, uti possint huius-
modi rebus fictis3), verräth eine Klarheit der Anschauung, wie sie
bedauerlicherweise nach ihm ganz wieder verloren ging. Denn die
Beschäftigung mit dem Imaginären, welche ja noch am ehesten ge¬
eignet schien den schwach sich regenden Nominalismus zu kräf¬
tigen, führte im Gegentheil, wie wir gesehen haben, geradeswegs
wieder zu einem Rückfall in den alten Realismus.
So wurde denn die Ausbildung und Förderung der nomina-
listischen Ansichten von den Mathematikern ganz der Philosophie
anheimgestellt, sehr zum Schaden der Sache. Denn wenn auch
die diesbezüglichen Theorien, wie sie der Schule des Empirismus
1) .. . et hucusque progreditur Arithmeticae subtilitas, cuius hoc extremum
ut dixi, adeö est subtile, ut sit inutile : Liber artis magnae XXXVII, in der ci-
tirten Ausgabe S. 287.
2) videlicet minutias unitatis habendas esse pro numeris fictis. Arithmetica
integra. Norimbergae 1544, liber III, caput V, p. 249.
3) Vgl. Gerhardt: Geschichte der Mathematik in Deutschland. München
1877, S. 74.