Volltext: Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen, Fortsetzung (6)

Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklnngsformen. 119 
hat Kant auch die logische Zurückführung der Zahl auf die Zeit 
wohl beabsichtigt, aber nirgends näher ausgeführt. Seine Ansichten 
über diesen Punkt finden sich vielmehr überall zerstreut. Der Be- 
urtheiler sieht sich also hier einer Reihe einzelner, unzusammen¬ 
hängender Meinungsäußerungen gegenüber, welche erst zu einem 
System ergänzt werden müssten. Nimmt man aber alle gelegent¬ 
lichen, auf unsern Gegenstand bezüglichen Bemerkungen zusam¬ 
men1), so muss man zu der Ueberzeugung gelangen, dass Kant’s 
Ansicht über den Zahlbegriff sich nicht frei aus sich seihst heraus 
entwickelt hat, sondern vollständig unter dem Zwange seines Trans- 
cendentalsystems steht2). Nach Analogie bestimmend hat hier vor 
allen Dingen die unmittelbare Beziehung der Geometrie zur Raum¬ 
anschauung gewirkt. Während Kant aber gerade hierüber sehr 
klare und ausgearheitete Gedanken vorträgt und hei Exemplifici- 
rungen im Gebiete der Mathematik auch am liebsten auf geome¬ 
trische Beispiele zurückgreift, mag er wohl andererseits seihst die 
Unmöglichkeit einer ebenso innigen Beziehung von Zeitanschauung 
und Arithmetik gefühlt haben ; denn alle hierhin zielenden Bemer¬ 
kungen erscheinen als ebenso viel unzusammenhängende Behaup¬ 
tungen, die eines Beweises durchgängig ermangeln. 
Ein solcher ist nun freilich auch nur in den seltensten Fällen 
zu gehen. Denn, wenn Kant z. B. gleich nach der discontinuir- 
lichen Auffassung der Zahl als der »Vorstellung, welche die suc¬ 
cessive Addition von einem zu einem (gleichartigen) zusammenfasst«3), 
zu der Ableitung eines continuirlichen Zahlengebietes übergeht, so 
ist hier eine weite logische Lücke, die allein durch den Hinweis 
auf die Analogie mit der Zeitanschauung nicht üherbrückt werden 
kann. Wenn er ferner gezwungen wird, ebenso wie die Geometrie 
die Construction im Raume ist, die Arithmetik als eine ebensolche, 
1) Die wichtigsten finden sich a. a. O. S. 126, 143, 146—148, 244, 380, 
554—558 etc. 
2) Außer der hier behandelten Ansicht hat Michaelis in seiner Abhand¬ 
lung: Ueber Kant’s Zahlbegriff (Programmabhandlung Berlin 1884) aus zwei 
Stellen der Kritik noch eine andere Auffassung nachweisen zu können gemeint, 
in welcher der begriffliche Charakter der Zahl mehr betont wird. Da aber die 
diesbezüglichen Angaben der Beurtheilung fast gar keine Handhabe bieten, können 
sie hier übergangen werden. Näheres in der citirten Abhandlung p. 7 ff. 
3) A. a. O. p. 126.
	        
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