114
Waller Brix.
ganz ohne Glück, die realistische Betrachtungsweise durch eine
gründlichere Auffassung zu retten. Die Bestrebungen in dieser
Richtung sind im allgemeinen getragen von den mathematischen
Ideen des Rationalismus.
Eine Vertiefung der erwähnten Anschauungen konnte nun
eigentlich höchstens dadurch erreicht werden, dass man den Rea¬
lismus dem bisher maßgebenden empirischen Standpunkt entzog.
In dieser Beziehung hatten schon die Pythagoreer Fortschritte ge¬
macht, indem sie der allgemeinen Zahlenlehre eine selbständige,
freilich völlig der Wirklichkeit immanente Bedeutung beimaßen.
In gleicher Richtung wirkten der transcendente Realismus Plato’s
und der immanente des Aristoteles, ohne indessen gerade an dem
Zahlbegriff viel zu ändern. Der Erste, welchem wirklich auch eine
eingehender durchgeführte Auffassung zugesprochen werden muss,
war Descartes. Sein apriorischer Realismus lässt die mathema¬
tischen Begriffe nicht mehr durch Abstraction aus der Anschauung
entstehen, sondern spricht sie als ursprünglichen Besitzstand von
Ideen dem menschlichen Geiste zu. Diese Auffassung bietet in der
That den doppelten Vortheil, dass sie einmal nicht mit den Wider¬
sprüchen zu kämpfen braucht, welche die nachträgliche Veran¬
schaulichung dem Zahlbegriff einimpft, andererseits aber auch eine
freie selbständige Entwickelung der Zahlbeziehungen allein aus
ihrem Begriff heraus gestattet. Von dem letzten Vortheil hat nun
Descartes allerdings noch weniger Gebrauch gemacht, wie von
dem ersten. Denn während er die Zahlen, welche als solche zu
den »klaren Ideen« gehören, bald rein begrifflich fasst, gleich den
racines fausses und imaginairesl), bald aber auch — und hierin
besteht ja seine Hauptbedeutung für die Mathematik — mit den
1) Mais souvent il arrive que quelques unes de ces racines sont fausses ou
moindre que rien; comme si on suppose que x désigne aussi le défaut d’une
quantité qui soit 5, on a x + 5 = 0. Descartes: La Géométrie, Livre troisième
(1637 erschienen) in der Cousin’schen Gesammtausgabe, V, Paris 1824, p. 389,
in der Separatausgabe: Paris 1886, p. 56. Für das Imaginäre kommt die Stelle
in Betracht : Au reste tant les vraies racines que les fausses ne sont pas toujours
réelles, mais quelquefois seulement imaginaires, c’est-à-dire qu’on peut bien
toujours en imaginer autant que j’ai dit en chaque équation, mais qu’il n’y a quel¬
quefois aucune quantité qui corresponde à celles qu’on imagine. A. a. O. bei
Cousin V, p. 398, in der Separatausgabe p. 63.