Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen. 113
In Wahrheit blieben beide genau so heterogen wie vorher. Denn
es war ja niemand im Stande, den Begriff des Complexen aus seiner
anschaulichen Bedeutung heraus zu abstrahiren, sondern dieser an¬
schauliche Charakter war ihm erst später mit großer Kunst und
vielem Scharfsinn aufgezwungen worden, weil ein im Grunde un¬
berechtigtes Verlangen, dass die rein formale Mathematik überall
der Anschauung entsprechen solle, ihre Verdinglichung forderte.
Die Ueberbrückung des Gegensatzes von formaler und anschaulicher
Mathematik, welcher zu jener Zeit als Widerspruch empfunden
wurde, war also wie bei den Indern eine rein äußerliche, eine Con¬
cession, die man der Ausgleichung eines in Wirklichkeit gar nicht
vorhandenen Widerspruches machte, ohne doch dem wahren Cha¬
rakter des Imaginären damit näher zu kommen. Statt seine rein
formale Natur zu enthüllen, hatte man sie durch einen täuschen¬
den Anstrich dem forschenden Auge verdeckt. Die Ansicht von
Gauß: »Von einer anderen Seite wird hierdurch die wahre Me¬
taphysik der imaginären Größen in ein neues helles Licht gestellt« b
kann man so wenig gelten lassen, dass man viel eher von einer
logischen Verdunkelung des Gegenstandes sprechen könnte.
So ist der Grundzug der mathematischen Auffassung der Arith¬
metik von den Indern bis etwa in die Mitte dieses Jahrhunderts —
ja es kann nicht geleugnet werden, dass selbst heutzutage noch
Viele auf demselben Standpunkt stehen — ein Realismus a po¬
steriori. Was der Veranschaulichung fähig, nicht was aus der
Anschauung abstrahirt ist, gilt ihm als real, gleichviel ob die je¬
weilige geometrische Bedeutung naturgemäß aus dem Begriff selbst
zu ziehen, oder nur mit gewaltsamen Mitteln zu bewerkstelligen
ist. Da aber dieser Realismus mit dem ausgesprochenen Princip
der Veranschaulichung um jeden Preis im Grunde doch nur ein
versteckter, nicht eingestandener Nominalismus war, so krankte er
an einem tiefen inneren Widerspruch, der unmöglich auf die Dauer
verborgen bleiben konnte und entweder zu einer durchgreifenden
Erneuerung Anlass gehen, oder aber direct zum Nominalismus über¬
führen musste. Bevor man nun aber zu diesem Letzten, Aeüßersten
sich entschloss, versuchte man doch noch, und zwar immerhin nicht
1) Werke II, S. 176.
Wundt, Philos. Studien. YI,
8