Untersuchungen über die Auffassung von Tondistanzen.
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Auch über den weiteren Seite 28 erwähnten streitigen Punkt,
ob die Unterscheidung der Tonhöhen nur auf der Klang¬
verwandtschaft beruhe, wie Helmholtz behauptet, oder ob
wir außerdem ein unmittelbar in der Empfindung gele¬
genes, von der Klangverwandtschaft unabhängiges Maß
für endliche Ton höhen unter schiede besitzen, was Wundt’s
Ansicht ist, gehen unsere Versuche Aufschluss. Die Beurthei-
lung der Lage des mittleren Tones Mv zu den beiden Grenz¬
tönen T und H, welche den Gegenstand unserer Versuche bildete,
ist, wie dies im Vorhergehenden schon geschehen ist, im eigent¬
lichen Sinne als eine Vergleichung der beiden aneinanderstoßenden
Distanzen TMV und MVH aufzufassen. Diese Distanzen werden
aber in den meisten Fällen von Tönen gebildet, hei denen an eine
Klangverwandtschaft nicht zu denken ist. Die Beurtheilung der¬
selben hinsichtlich ihrer gegenseitigen Größe kann also unmöglich
auf die Klangverwandtschaft zurückgeführt werden; dieselbe kann
wenigstens in den weitaus meisten Fällen nicht im Spiele gewesen
sein. Der Umstand, dass trotzdem ziemlich bestimmte Urtheile,
soweit dieselben nach der Natur der Sache erwartet werden können,
abgegeben worden sind, beweist die Richtigkeit der von Wundt
vertretenen Meinung, »dass wir unabhängig von der Unter¬
scheidung der Töne nach der Klangverwandtschaft die
Fähigkeit der messenden Vergleichung endlicher Em¬
pfindungsunterschiede besitzen«. Allerdings entspricht
dieses in der Empfindung gelegene Maß nicht dem Weber’schen Ge¬
setze, wie früher angenommen wurde, sondern scheint der absoluten
Schwingungszahl proportional zu sein, wie wir oben gesehen haben.
Gleichzeitig wird durch unsere Versuche gezeigt, dass es im
Tongebiet nicht nur möglich ist, ziemlich scharf zu beurtheilen,
ob die eine von zwei mit einander verglichenen Distanzen größer
ist als die andere, sondern dass wir, wie in anderen Sinnesgehieten,
auch hier die Fähigkeit besitzen, zwei Distanzen als gleich zu
beurtheilen; dafür legen die zahlreichen Schätzungen m, welche
diese Gleichheitsurtheile darstellen, und welche nach der Art, wie
sie auftreten, nicht den Charakter der Zufälligkeit tragen, ein deut¬
liches Zeugniss ab *).
1) Vergl. Stumpf, Tonpsychologie. I. S. 123 f.