Die Dimensionen des Raumes.
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gerechtfertigter, das Eingreifen einer unbekannten Gewalt anzunehmen,
die das rechte Individuum vernichtete und das linke neu schuf, als
zur vierten Dimension seine Zuflucht zu nehmen. Denn die erstere
Annahme verstößt nur gegen das bisher Beobachtete, die letztere
aber gegen die nothwendigen Anschauungs- und Denkgesetze.
Man nimmt gewöhnlich an, dass wir hei der Vorstellung einer
Fläche oder Ebene von dem, was man die dritte Dimension nennt,
völlig ahstrahiren. Wenn man damit aber meint, dass man bei der
Vorstellung einer Fläche den die Fläche einschließenden Baum als
nicht vorhanden betrachten könne, so scheint mir das eine folgen¬
schwere Verkennung dessen zu sein, was die Abstraction wirklich ist
und sein kann. Von dem als nothwendig Erkannten kann
man überhaupt nicht ahstrahiren. Ein geometrischer Satz,
dessen Bichtigkeit man eingesehen hat, muss immer und überall gültig
sein. Kommt derselbe hei irgend einem Gedankengange überhaupt
nicht in Frage, so braucht man auch nicht von ihm zu ahstrahiren.
Kommt er aber in Frage, so handelt man gegen die Wahrheit, wenn
man ihn dennoch nicht berücksichtigt, und die Ergebnisse können
niemals Anspruch auf Gewissheit oder wissenschaftlichen Werth
machen. Wenn man von etwas Thatsächlichem abstrahirt, so heißt
das weiter nichts, als dass man ihm im betreffenden Falle nur ge¬
ringe oder keine Aufmerksamkeit zuwendet, nicht aber, dass man
dasselbe als nicht vorhanden, nicht thatsächlich annimmt. Die Eigen¬
schaften, Verhältnisse und Beziehungen, von welchen man in einem
gegebenen Falle abstrahirt, werden nicht etwa als nicht vorhanden
betrachtet, sondern sie werden nur möglichst weit aus dem Centrum
der Aufmerksamkeit weggerückt. Eine völlige oder auch nur an¬
nähernd vollständige Abstraction, die ja der Negirung gleich oder
nahe käme, ist eben so wenig möglich wie eine Annäherung an die
Null oder eine Annäherung der linearen Größe an den Punkt. Jede,
auch die geringste Größe, ist unendlich viel größer als das Nichts,
und jede, auch die kleinste Linie, auch wenn man sie in der Maske
des Linienelements auftreten lässt, ist, mit genügend starkem Ver¬
größerungsglas betrachtet, eine große Linie, während der Punkt
immer Punkt bleibt. So darf auch die Abstraction niemals zur
völligen Vernachlässigung oder Negation werden. Nur so lange man
dessen eingedenk bleibt, bilden die Producte der Abstraction recht-
Wundt, Philos. Studien. XIX. 26