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A. Kirschmann.
besitzen sie ein besonderes Vorrecht auf die Identificirung ihrer Grund¬
richtungen mit den Dimensionen des Raumes.
Auf die Entstehung des unklaren Dimensionsbegriffes der heutigen
Mathematik hat neben der fortwährenden Confusion der Stufen räum¬
licher Grenzbestimmung mit Coordinaten oder Grundrichtungen noch
ein anderer', uns so zu sagen in Fleisch und Blut übergegangener,
folgenschwerer Irrthum bestimmend eingewirkt, nämlich die Vor¬
stellung, dass alle Raumbetrachtung von dem Punkte als Raum-
» Element« beginnen müsseJ), und dass die linearen Größen bei aller
Ausdehnung als das Primäre zu betrachten seien.
Der Punkt hat keine Ausdehnung. Bei diesem Satze pflegt man,
da das Nicht-Ausgedehnte doch nicht räumlich sein könne, still¬
schweigend hinzuzudenken, dass also der Punkt etwas Nicht-Räum¬
liches sei. Das muss sogar dem großen Philosophen und Mathema¬
tiker passirt sein, der die analytische Geometrie einführte, sonst hätte
er wohl nicht schließen können, dass, da die Seele nicht räumlich
sei, der influxus physicus nur in einem Punkte des Gehirns stattfinden
könne. Hier liegt ein einfacher sprachlich-logischer Schnitzer vor,
der sich dem ungenauen Ausdruck »unräumlich« an die Ferse heftet.
Das Räumliche ist ein weiterer Begriff als das Ausgedehnte. Auch
die Raumgrenzen, Raumbeziehungen u. s. w. sind räumlich, nicht nur
der Raum selbst und seine Theile. In der That, der Punkt ist
r keineswegs etwas Unräumliches. Er ist im Gegentheil so zu sagen
von allem Räumlichen das Räumlichste, denn er ist das Product der
vollendeten Raumbestimmung. Aber dabei ist er doch kein Theil
jdes Raumes, also auch kenURaumelement. Der Raum besteht nicht
jaus Punkten, sondern, da er homogen, congruent ist, aus Räumen.
Jeder noch so kleine Theil des Raumes ist wieder ein allseitig aus¬
gedehnter Raum. Die Widersprüche, die sich einstellten, wenn man
den Punkt als Raum-Element ansah, haben denn auch die Mathe¬
matiker zur Einführung solcher Pseudobegriffe wie Linienelement,
Flächenelement, Punktmenge u. s. w. bewogen, mit welchen man
wenigstens sprachlich um die Schwierigkeiten herumzukommen glaubt,
die entstehen müssen, wenn man qualitative Verschiedenheiten durch
reine Größenunterschiede auszudrücken vermeint. Punktreihen und
1) Grassmann, Ausdehnungslehre, Engel’sche Ausgabe, S. 28.