Die Dimensionen des Raumes.
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unlösbaren Widerspruch setzt, ist eine in jeder Erfahrung und
in jedem nothwendigen Gesetz mitgegebene Thatsache.
Wenn nun auch Legendre1) beweisen konnte, dass die Winkel
im Dreieck zwar nicht größer, wohl aber kleiner als n sein können,
sind denn die Begriffe n oder 180° dann auch noch dasselbe, was sie
vorher waren? Müsste nicht erst bewiesen werden, dass diese Be¬
griffe ganz unabhängig von dem Dreieckssatz, dem Parallelengesetz und
dem damit zusammenhängenden Axiom von der Geraden sind? Wenn
man wirklich durch einen Punkt außerhalb einer Geraden zwei Paral¬
lelen zu der Geraden ziehen kann, die die Gerade in »unendlich
fernen« Punkten schneiden — wobei man, wie es scheint, annehmen
soll, dass die zwischen beiden Parallelen durch den Punkt gelegten
Geraden, die die Linie überhaupt nicht schneiden, nicht parallel
zu jener seien und dass zwischen »gar nicht schneiden« und »in der
Unendlichkeit schneiden« ein wesentlicher Unterschied besteht, —
dann muss die Gerade doch auch eine Tangente an einem Kreise
und der Punkt der Mittelpunkt des Kreises sein können. Es lassen
sich also zu jeder Tangente am Kreise mehrere parallele Durch¬
messer ziehen. Damit ist aber nicht bloß der gewöhnliche Begriff
der Parallelen sondern auch der des Lothes, derjenige des rechten
Winkels und demnach der Zahl n durchaus geändert. Wenn man
also sagt, die Summe der Winkel im Dreieck könne auch kleiner sein
als 5T, so bedeutet dieses n nicht mehr dasselbe wie in dem geläufigen
Satze, wonach die Summe der Dreieckswinkel = n ist.
Man hat behauptet, Gauß sei, als er die Winkelsumme des
Dreiecks Brocken — Inselsherg — hoher Hagen durch genaue
Messung ermittelte, in ähnlicher Weise kritisch gegen die Geometrie
verfahren, wie Kant in seiner Kritik gegen die Vernunft verfuhr2).
Es sei denkbar, dass bei weiterer Forschung sich herausstelle, dass
das Gesetz von der Winkelsumme für sehr große Dreiecke nicht
gilt. Nun kennt aber die Geometrie Euklid’s eine solche Verleug¬
nung der Thatsache der Relativität gar nicht. Es gibt keine schlecht¬
hin großen und kleinen Dreiecke, und wer einer Figur, deren Winkel¬
summe mehr oder weniger beträgt als 2 E, den Charakter des gerad-
1) Friedrich Engel, Theorie der Parallellinien, S. 212.
• 2) Fritz Medicus, Kant’s transcendentale Aesthetik und die nicht-euklidi¬
sche Geometrie, S. 35 f.