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A. Kirsehmann.
der heutigen Mathematik, eine wirklicherf(Analyse der Begriffe aus¬
zuführen. Was man in der Mathematik Analyse nennt, ist, soweit
es sich auf den Baum bezieht, nur ein Zurückführen bis auf ein
gewisses, der arithmetischen Behandlung bequemes Stadium, wie bei
den rechtwinkligen und Polar-Coordinaten, nicht aber ein Zurückführen
auf absolut einfache, nicht weiter zerlegbare Elemente. So ist der
Punkt nur vom Standpunkte der Größenbetrachtung einfach und
unzerlegbar, nicht aber von demjenigen der Ausdehnung (d. i. des
Baumes).
Man streitet sich darum, ob die als Axiome ausgegebenen Sätze
apriorischer oder empirischer Natur sind — und dabei sind »apriorisch«
und »empirisch« seihst ziemlich fragwürdige Begriffe — anstatt, wie
es z. B. die Chemie mit so großem Erfolge gethan und wie es
die Psychologie zu thun begonnen, zu ermitteln, ob sie etwas ab¬
solut Einfaches oder ein Zerlegbares ausdrücken. Ist aber ein
mathematischer Satz oder Gedanke als absolut einfach befunden
worden, so kann er nicht bewiesen werden, und wenn von zwei
Menschen der eine ihn für nothwendig, der andere aber für falsch
erklärt, so spricht einer von ihnen, falls wir annehmen, dass das
Denken beider commensurabel ist, die — Unwahrheit (die subjective,
denn eine andere gibt es nicht).
Die Anwälte der nicht-euklidischen Geometrie sind meist geneigt
den Gegnern vorzuwerfen, dass sie zu sehr an den einmal gewählten
technischen Ausdrücken Anstoß nehmen, und dass die Abneigung
gegen die neue Lehre zum großen Theil auf mathematischer Unkennt¬
nis8 — das hat man sogar die Stirn gehabt, dem scharfsinnigen Lotze
vorzuhalten1), — hauptsächlich auf Unverständniss für die wahre Be¬
deutung der für die nicht-euklidische Geometrie eingeführten Bezeich¬
nungen beruhe, ähnlich etwa wie es dem Laien mit der langathmigen
Terminologie der modernen organischen Chemie ergeht. Hier aber
liegt die Sache ganz anders. Auch die einen Zeilen langen Namen
erheischende complicirte Kohlenstoffverbindung kann eindeutig als
explicite Function von Badicalen und Elementen definirt werden, und
die chemische Terminologie ist trotz ihrer für den Uneingeweihten
abschreckenden Form ganz consequent. Nicht so diejenige der
1) Russel, Foundations of Geometry, p. 98.