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A. Kirschmann.
sie ist complex und der Differenzirung und Entwickelung fähig.
(Damit ist natürlich nichts gegen die Apodicticität der die Größen
Verhältnisse betreffenden mathematischen Theoreme ausgesagt.)
Die von den Vertretern der Herbart’schen Schule in negativem,
von Lotze, Wundt und Ebbinghaus aber im positiven Sinne be¬
antwortete Frage, ob das in bewegungsloser Umgebung in absoluter
Ruhe befindliche Auge räumlich sehen würde, muss daher im Sinne-
der letzteren Ansicht entschieden werden. Ein solches Auge hätte
zwar keinerlei Veranlassung, Beurtheilungen über Größe und Ent¬
fernung anzustellen. Der räumlichen Unterscheidung aber wäre es
r von vornherein ebenso fähig wie der Unterscheidung von Hell und
Dunkel, Roth und Blau. Es könnte von Anfang an wahrnehmen:
Dieser Punkt ist nicht jener Punkt; diese Richtung ist eine andere
als jene; dieser Punkt oder diese Richtung liegt zwischen jenen
Punkten oder Richtungen. Das sind denn auch in der That die
letzten Grundthatsachen, von denen die neuesten Behandlungen der
Grundlagen der Raumlehre ausgehen1).
Die angeregte Frage wird gewöhnlich nur mit Rücksicht auf die
flächejnhafte Ausdehnung des Gesichts- und Tastfeldes aufgeworfen.
Wie steht es nun damit bei Hinzuziehung der dritten Dimension?
Diese Frage aber führt uns zu unserem speciellen Probleme zurück,
zu der Behauptung Zöllner’s, dass die Art und Weise, wie wir zur
dritten Dimension gelangen, auch die Annahme einer vierten recht-
fertige oder gar fordere.
Die flächenhafte Natur des Gesichtsraumes ist von Max Kauf f-
mann2) und neuerdings von Ebbinghaus3) betont worden, welcher
- dabei die zweidimensionale Raumanschauung als etwas Ursprüngliches
und Elementares annimmt. Er denkt sich die ursprüngliche Flächen¬
wahrnehmung analog derjenigen, die wir haben, wenn wir in eine
durchsichtige Flüssigkeit, in die Finsterniss eines Zimmers, in einen
dicken Nebel, gegen den Himmel oder in die Gluth einer großen
Flamme blicken4). Aber wenn nicht sichtbare Verschiedenheiten,
1) David Hilbert, Grundlagen der Geometrie. Festschrift zur Enthüllung
des Gauß-Weber-Denkmals in Göttingen. 1899.
2) Immanente Philosophie. S. 10 ff.
3) Psychologie, I, S. 440.
4) Ebenda, S. 428.