224
Willy Hellpach.
Erlebniss in gar keinem Zusammenhänge ; wir können sie nur auf die
durch das Unglück hervorgerufene heftige Gemüthserschütterung be¬
ziehen. Bezeichnend für die Hysterie ist allerdings dabei wieder, wie
verhältnissmäßig geringfügige Affecte den nämlichen Erfolg haben
können. Hier erleidet also für längere oder kürzere Dauer die ge-
sammte Bewusstseinslage durch eine Gemüthsbewegung eine derartige
Veränderung, dass die von einer bestimmten Stelle des Körpers her
einströmenden Empfindungen nicht zur Apperception gelangen können.
Moebius sagt: »Die Kranken fühlen (d. h. empfinden), aber sie wissen
es nicht«. Er denkt natürlich dabei an das im Unbewussten sich
abspielende Fühlen, und in seinem Sinne ist der Satz darum meta¬
physisch; wenn wir aber das Nicht-Wissen mit dem Nicht-Appercipiren
gleichsetzen, so können wir die Ausdrucksweise immerhin beibehalten.
Aber einer seltsamen Inconsequenz hat Moebius sich doch schuldig
gemacht. Er gesteht in jenem Satze ausdrücklich zu, dass es sich
bei der hysterischen Anästhesie um eine psychische Störung handele,
durch die — nach seiner Auffassung — das Bewusstwerden be¬
stimmter Empfindungen verhindert wird. Dennoch hält er die hyste¬
rischen Geistesstörungen für bloße Oomplicationen, die aus der
allgemeinen Entartung zu erklären seien. Nun ich finde, die Mög¬
lichkeit, dass durch einen Affect die Apperception ganzer Empfin¬
dungsgruppen für lange Zeit abgeschnitten wird, deutet auf eine so
tiefgreifende geistige Alteration hin, dass wir uns über Dämmer¬
zustände und Delirien nicht wundern dürfen. Die Sensibilitäts¬
sperrung — wenn ich es so nennen darf — gehört gerade nach
dem obigen Bekenntniss von Moebius zu den psychischen, und nicht
zu den psychogenen Vorgängen, sie ist die psychische Wirkung einer
psychischen Ursache; ihre Häufigkeit liefert den psychologischen
Beweis dafür, dass die Hysterie nicht bloß die Proportionalität
körperlicher zu psychischen Vorgängen stört, ohne letztere an sich
zu verändern, sondern unter allen Umständen die Psyche selber aus
dem Gleichgewicht bringt. Unter allen Umständen! muss man be¬
tonen; denn die Sensibilitätsstörungen sind, wo alle anderen Zeichen
noch fehlen, die ersten classischen Verräther der hysterischen Ent¬
artung.
Aber der Moebius’sche Satz gilt doch, wie ich glaube, überhaupt
nur für diese eine Möglichkeit hysterischer Anästhesie. Im anderen