Psychologie und Nervenheilkunde.
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dem wir vorhin begegneten, jene Illusion der psychomotorischen Acti¬
vât oder, vulgär zu reden, der Willensfreiheit, ist eine Thatsache,
die hei jedem Kampf der Motive an den Sieg des einen Motivs, die
Entscheidung, sich knüpft, und erweist sich als ein eigenthümliches
Gefühl der Thätigkeit, das wir wohl in der Richtung der lösenden
Gefühle zu suchen haben. In unserem früher angezogenen Beispiel
wirkten also der Anblick des Wagens, die Furcht getödtet zu werden
und die Erwägung, dieser Gefahr nur durch rasches Ausweichen ent¬
gehen zu können, motivirend für das Beiseitespringen. Denn die Er¬
wägung ist zweifellos vorhanden, mag sie auch auf einen Augenblick
sich zusammendrängen. Ein Kind bleibt vielleicht müßig stehen, weil
es die Gefahr nicht kennt, und der Erwachsene wird die Schnellig¬
keit seines Ausweichens je nach dem heraneilenden Gefährt abmessen :
eine Droschke dürfte sein Tempo erheblich mäßigen, und einem
trabenden Reiter würde er vielleicht überhaupt nicht Platz machen,
indem über die anfängliche Vorstellung, überritten zu werden, die
andere siegt, dass auf dieser Straße das Reiten unstatthaft und der
Reiter zum Ausweichen verpflichtet sei. Die Hilflosigkeit des Klein¬
städters beim Ueberschreiten eines verkehrsreichen Platzes in der
Großstadt beruht ja gerade auf der Langsamkeit, mit der diese Ent¬
schlüsse reifen, weil die Erfahrung fehlt, die den Vorstellungen
ein bestimmtes Maß motivirender Kraft verleiht. Diese Kraft
liegt, wie wir wissen, in dem Gefühlswerth, der den einzelnen Vor¬
stellungen innewohnt: die Furcht zu verunglücken ist zunächst
überwältigend stark gegenüber dem Wunsche, hinüber zu gelangen,
und der Sorge, durch Zögern sich lächerlich zu machen; erst die
Erfahrung mäßigt jene Furcht so weit, dass sie nach und nach mit
den beiden anderen Gefühlserlebnissen in einen echten Widerstreit
treten und ein Kampf der Motive sich vollziehen kann. Dieser Kampf
drängt sich zeitlich dann immer enger zusammen, aber er besteht
fort, desto deutlicher, je stärkere Gefühlsgegensätze die Persönlichkeit
beherrschen: der Vorsichtige weicht auch dem Reiter aus, vielleicht
sogar einem sehr eilig daherstürmenden Fußgänger, der bei aller
Vorsicht mehr trotzig Veranlagte wird in diesen Fällen seinen Weg
unbeirrt weiter gehen, nachdem er sich überlegt hat, dass der be¬
drohende Theil kein Recht habe, ihn zu verdrängen, aber auch er
flüchtet vor dem elektrischen Wagen oder einem wild gewordenen