Volltext: Die Hauptformen des Rationalismus (19)

Die Hauptformen des Rationalismus. 
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sind unbewusst, unbewusst ist sehr häufig auch die Wirksamkeit 
rationalistischer Motive in den Einzelwissenschaften. Die philosophische 
Arbeit wird dann diese Ansätze ins Bewusstsein zu erheben haben. 
Daher findet sich in der Philosophie relativ selten ein vollkommen 
unbewusster Rationalismus, weit häufiger, bis in die Gegenwart hinein, 
ein nicht vollkommen bewusster. Besonders interessant ist die erste 
Erkebung ins Bewusstsein, die der Rationalismus in der griechischen 
Philosophie erfahren hat. Ein unbewusst rationalistisches Element 
zeigt sich zugleich mit dem Beginn des Philosophirens in dem Ein¬ 
heitsstreben der ionischen Philosophen. Diese Forderung der Einheit 
wird von Xenophanes ausdrücklich und allgemein hervorgehoben. 
Heraklit, der das vereinheitlichende Gesetz im ewigenWechsel sucht, 
beginnt dann, wie Kühnemann1) es ausdrückt, »den in der Ent¬ 
wicklung der Philosophie welthistorischen Kampf gegen die Sinne« 
und preist das Denken, das allen gemeinsam ist2). Aber weder rein 
noch vollbewusst scheint sein Rationalismus zu sein. Parmenides 
geht nach beiden Richtungen hin über ihn hinaus. Er fordert nicht 
nur Läuterung der Sinneserkenntniss — worauf es bei Heraklit 
herausgekommen zu sein scheint — sondern er verwirft sie ganz und 
gar. Das reine Denken, das das Eine, Seiende erfasst, ist ihm der) 
rechte Weg zur Wahrheit. Denken und Sein sind identisch3). Sein 
ganzes System ist im Grunde Verkündigung des Satzes der Identität, 
des obersten Denkgesetzes. Aber diesem begeisterten Preise des 
reinen Denkens fehlt noch eins: die ausdrückliche und positive Kenn¬ 
zeichnung dieses wahren Erkenntnissmittels. 
Dieser Fortschritt war im’ Kampfe gegen die Sinne nicht zu ge¬ 
winnen, sondern er entstammt der Abwehr eines anderen Gegners,^ 
der auf das Erkennen überhaupt den Angriff wagte, nämlich derç 
sophistischen Skepsis. Hier wurde geleugnet, dass es Erkennen über¬ 
haupt gibt; e? wurde damit alles der Willkür des Meinens, dem 
Belieben des Einzelnen, dem leeren Gerede überliefert4). Wollte man 
1) Grundlehren der Philosophie. Berlin 1899. S. 39. 
2) Heraklitos von Ephesos. Griechisch und deutsch von H. Diels. Berlin 
1901. Fragm. Nr. 112, 113. — dazu, um den Werth des Gemeinsamen bei H. zu 
würdigen, Fragm. Nr. 89. 
3) Parmenides Lehrgedicht, griechisch und deutsch von H. Diels. Fragm. I, 
Vers 33—38, Fragm. Y, Fragm. VIII, Vers 34—37. 
4) Diese negative Charakteristik der Sophisten erschöpft natürlich ihre Ver-
	        
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