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Jonas Cohn.
leben nach Analogie des Erkennens zu erklären oder alle Werthe auf
Erkennen zuriickzuführen. Historisch findet sich besonders der
psychologische Intellectualismus mit Sensualismus verbunden in der
einflussreichen englischen Associationspsychologie. Umgekehrt ist es
unnöthig, dass der Rationalismus mit psychologischem oder werthendem
Intellectualismus verbunden ist. Eine rationalistische Erkenntniss-
theorie könnte an sich auch im Seelenleben ein »rationale« anerkennen,
das nicht »ratio« ist. Freilich wird sich das hier schwerer als für die
Körperwelt durchführen lassen und hat daher auch historisch kaum
eine bedeutende Verwirklichung gefunden. Noch weniger aber ist
der Rationalismus genöthigt, alle Werthe aus denen des Erkennens
abzuleiten. Der Unterschied von Rationalismus und Intellectualismus
tritt besonders deutlich hervor, wenn man betont, dass Rationalismus
f sich auf den Gegensatz: Denken, Empfindung, specieller Intellec-
i tualismus auf den Gegensatz: Vorstellung, Wille (Gefühl) bezieht,
wobei die Vorstellung ebenso gut sensualistisch wie rationalistisch
1 aufgefasst werden kann.
Definiren und gegen andere Begriffe abgrenzen kann man den
Rationalismus in einer fast rein theoretischen Untersuchung. Will
man aber die principiell verschiedenen Hauptformen dieser Grund¬
ansicht vorführen, so muss man die historische Entwicklung etwas
näher zu Rathe ziehen. Denn eine Aufzählung bloßer Möglichkeiten
würde den Auskünften des Geistes doch niemals genug thun und
wiederum vieles besprechen müssen, was sich sogleich als werthlose
Form erweist, die niemals mit der Wirklichkeit eines durchgebildeten
philosophischen Systèmes erfüllt werden konnte. Die erste Unter¬
scheidung lässt sich dadurch machen, dass in einzelnen Systemen oder
Gedankenreihen der Grundsatz des Rationalismus den Anschauungen
zu Grunde liegt, aber nicht als solcher ausgesprochen wird, während
in anderen sich die Reflexion des Denkers grade diesem Grundsätze
selbst zuwendet. Man kann diese beiden Formen als bewusste und
unbewusste bezeichnen. Aber diese Namen sind nicht sehr glücklich,
viel treffender wären die Hegel’schen Ausdrücke »an sich« und »für
sich seiend«. Doch ist es wohl hoffnungslos, das Vorurtheil besiegen
zu wollen, das diese Terminologie in Folge ihres vielfachen Miss¬
brauches gegen sich wachgerufen hat.
Die Ansätze zum Rationalismus im vorwissenschaftlichen Denken