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Jonas Cohn.
empirischen Exemplaren gegenüber unzweifelhaft ein von der Vernunft
erzeugtes Gebilde. Vielfach wird aber — in meist unbewusstem An¬
schluss an Plato — diese formale Rationalität des Begriffes zu einer
inhaltlichen umgedeutet, obwohl doch der Inhalt fast aller Begriffe
irrationale Elemente enthält. Diese Verschiebung des Rationalen,
dieser Schein, als sei der Begriff als solcher etwas Rationales, wird
durch eine Doppeldeutigkeit der Terminologie verstärkt, die besonders
bei Kant hervortritt. »Begriff« wird hier einerseits in der gewöhn¬
lichen allgemeinen Bedeutung, andererseits aber auch prägnant für
die den Begriff erzeugende Vernunft!unction, die Kategorie, gebraucht.
In den berühmten Formeln »Anschauungen ohne Begriffe sind blind,
Begriffe ohne Anschauungen leer« steht »Begriff« z. B. durchaus in
diesem prägnanten Sinne. So meint man denn im »Begriff« sogleich
ein vollendet Rationales zu erfassen. Gerade wo diese Gedanken
nicht klar analysirt werden, spielen sie bei der Wirkung des All¬
gemeinen mit. In der Aesthetik entsteht so eine besondere Schätzung
der Darstellung des Typisch-Durchschnittlichen — wobei sich frei¬
lich ein Nebenbegriff des idealen Typus fast stets einmischt. Frei
von der Doppeldeutigkeit des Wortes »Begriff« bleibt der Versuch,
das Aesthetische von den Principien der Formung der Anschau¬
ungen her (Einheit, Klarheit, Deutlichkeit u. s. w.) rational zu
fassen. Auf ethischem Gebiete ist es die Absicht des methodo¬
logischen Rationalismus, den Inhalt der sittlichen Gebote aus dem
Formalprincip der praktischen Vernunft herzuleiten. Charakteristisch
ist es, wie er sich dabei zu den von der Geschichte gegebenen
sittlichen Gestalten stellt. Man kann das besonders gut an dem
Beispiel der Nation darlegen. Es sind hier zwei Möglichkeiten
vorhanden: entweder die Rationalität wird als Zufälligkeit sittlich
entwerthet — höchstens als unvollkommene, zu überwindende Vor¬
stufe anerkannt, oder man sucht eine bestimmte Nation dadurch zu
retten, dass man ihr einen in abstracten Begriffen fassbaren Sonder¬
werth beilegt. Man braucht dabei nicht etwa so weit zu gehen,
dass man nur eine Nation als »die« sittlich berechtigte anerkennt,
sondern man kann einige sich abstract ergänzende Unterschiede ab¬
zuleiten suchen.
Man könnte in Versuchung kommen, das Problem des metho¬
dologischen Rationalismus in Antinomien zu formuliren. Auf natur-