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Jonas Cohn.
suchen, wie bedeutende Denker, die ihr ganzes Leben der Heraus¬
arbeitung einer besonderen Ueberzeugung gewidmet haben, diese zu
gestalten wussten. Man wird daher nicht umhin können, die Ge¬
schichte systematisch zu verwerthen.
Wenn ein Versuch in dieser Richtung sich in der Festschrift für
Wilhelm Wundt einen Platz erbittet, so kann er einen besonderen
Grund dafür anführen. Unser verehrter Lehrer hat als historisch
orientirter Systematiker immer wieder in seinen Schriften große Ueber-
sichten der philosophischen Richtungen und Problemlösungen gegeben.
Die Aufgabe dieser Studie knüpft an solche Bestrebungen an, ist
aber enger. Nicht alle Antworten auf eine der Grundfragen der
Philosophie sollen systematisch und historisch vorgeführt werden,
sondern nur die Spielarten einer der Hauptrichtungen, die sich in
der Erkenntnisstheorie bekämpfen.
Bisweilen versteht man unter Rationalismus ganz allgemein alle
Richtungen, die entschlossen sind, nur dasjenige anzuerkennen, was
V sich vor der Prüfung durch das Denken behaupten kann. Nimmt
man den Begriff so weit, so ist Rationalismus identisch mit wissen¬
schaftlichem Verhalten überhaupt. Denn nur wenn man das souveräne
Recht des Denkens anerkennt, oder nur in soweit man dies thut,
verhält man sich wissenschaftlich. Man verschleiert dieses Verhält¬
nis zuweilen dadurch, dass man die nothwendige Anerkennung irratio¬
naler Factoren im Erkennen und in der Wirklichkeit einwendet. Aber
es lässt sich leicht nachweisen, dass dies ein bloßer Scheineinwand
ist. Denn es ist etwas sehr Verschiedenes, zu sagen, man erkenne
nur an, was vernünftige Prüfung aushält, oder alles zu leugnen, was
' nicht selbst Erzeugnis der Vernunft ist. Die Wissenschaft muss
vielleicht das schlechthin Irrationale anerkennen, aber nur, weil es
vor dem Denken sein Recht zu erweisen vermag. Rationalismus in
diesem Sinne deckt sich also mit Wissenschaft und hat zu Gegnern
nur solche Richtungen, die auf gewissen Gebieten oder bestimmten
Fragen gegenüber das wissenschaftliche Prüfen grundsätzlich ablehnen.
Soll daher das Wort »Rationalismus« zur Bezeichnung einer beson¬
deren philosophischen, d. h. wissenschaftlichen Richtung verwendet
werden, so muss es in einer engeren Bedeutung gebraucht werden,
so dass andere wissenschaftliche Richtungen ihm gegenüber denkbar
erscheinen. Es muss dann »ratio« »Vernunft« etwas bedeuten, das