Volltext: Zur Psychophysik des Geschmackssinnes (17)

Zur Psychophysik des Geschmackssinnes. 619 
Geschmacksknospen. Vielleicht haben die flaschenförmigen Gebilde 
ähnlich wie nach Wundt1) die Pacini’schen Körperchen für die 
Endigung der Tastnerven, unter anderem die Aufgabe, die Geschmacks¬ 
nervenenden vor inadäquaten Reizen zu schützen. Die Reizflüssigkeit 
kann nur durch den engen Geschmacksporus, der nach Ranvier2) 
in die oberflächliche lamellare Schicht des Epithels eingegrahen ist, 
bis zu den Geschmackszellen Vordringen. Das Eindringen wird sicher¬ 
lich durch äußeren Druck nicht nur erleichtert, sondern auch be¬ 
schleunigt. Die erforderliche Unterstützung findet das Geschmacks¬ 
organ an dem Widerstande der Zähne und des Zahnfleisches. Am 
wirksamsten kann sich natürlich der Gegendrack an der Zungen¬ 
peripherie geltend machen. Sollte hierin nicht vielleicht der wesent¬ 
lichste Factor dafür zu erblicken sein, dass sich gerade die schmecken¬ 
den Elemente der äußersten Randzone der Zunge so hervorragend 
den Geschmacksreizen adaptiren konnten? Vielleicht vermindert sich 
die Sensibilität der Randzone zungeneinwärts genau in dem Maße, 
als die Wirkung dieses Widerstandes nachlässt? Somit können wir 
aus dem nämlichen genetischen Gesichtspunkte auch eine Erklärung 
für die centripetale Abstufung der Perceptionsfähigkeit auf der 
Schmeckfläche ableiten. Nicht minder ungezwungen kann man aus 
dem Momente des Gegendrucks auch die gesteigerte Empfindlichkeit 
der einzelnen Zungenregionen entwicklungsgeschichtlich zu begreifen 
versuchen. Durch Wundt’s3) Theorie der Ausdrucksbewegungen ist 
diese Auffassung bereits vorgezeichnet; es sei dabei nochmals erinnert 
an die Correspondenz von Fixation und Apperception im Gebiete des 
Gesichtssinnes. Wenn wir aus einem Geschmackseindrucke complexer 
Natur neben der dominirenden Empfindung die ebenmerklichen (Kom¬ 
ponenten herausfinden wollen, etwa einen zarten süßen Beigeschmack, 
so percipiren wir mit der Zungenspitze in der Weise, dass wir damit 
gegen die vordere Zahnwand, mehr noch aber gegen die geschlossenen 
Lippen reiben. So weit sich nun diese Reibungsfläche auf der Zunge 
ausbreitet, so weit reicht auch das für süße Geschmacksreize bevor¬ 
zugte Gebiet. Ganz analog verhalten wir uns, wenn wir ebenmerk- 
1) Wundt, Physiol. Psychologie, 4. Auf!., I, S. 303. 
2) Ranvier, Technisches Lehrbuch der Histologie. Uebersetzt von Nicoti 
u. Wyss. S. 867. 
3) Wundt, Völkerpsychologie, I, 1, S. 32 ff.
	        
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