Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.
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erinnert, mit welcher Sorgfalt z. B. Kiesow den Spuren des Con¬
trastes und Complementarismus der Geschmacksempfindungen nach¬
gegangen ist, um diese Frage nach ihrer physiologischen wie psycho¬
logischen Seite in entsprechender Weise wie hei den Farbeneindrücken
zu beantworten. In methodischer Beziehung wird der Experimentator
durch eine solche Vergleichung seiner Specialaufgahe mit der Psycho¬
logie des Gesichtssinnes manche dankenswerthe Förderung erfahren
und sich zu gesteigerter Genauigkeit und Sorgfalt anspomen lassen.
Freilich erwecken auch solche Vorerwägungen hochgespannte Er¬
wartungen, die in Wirklichkeit für dieses Sinnesgebiet gar nicht er¬
reichbar sind. Als es galt, die Intensitätsuntersuchung der Ge¬
schmacksempfindung in ihrer localen Bedingtheit am percipirenden
Organe in Angriff zu nehmen, wurde der Arbeitsplan durch die ex¬
perimentelle Untersuchung über die Farbentüchtigkeit der Netzhaut
beeinflusst. Die Ergebnisse der Beobachtungen über die letztere
haben bei Kirschmann1) und Hellpach2) einen treffenden graphi¬
schen Ausdruck in den Netzhaut-Isochromen gefunden.
Es schien ein verlockendes Unternehmen zu sein, die Kenntniss über
die Geschmackstüchtigkeit der Zunge in qualitativer wie intensiver Be¬
ziehung in gleicher Weise sicher zu stellen. Wenn man alle Geschmacks¬
punkte gleicher Sensibilität für jede Geschmacksart ermittelte und diese
unter einander verbände, so müsste ein System von Linien entstehen,
welches Zonen gleicher Empfindlichkeit abgrenzte, und diese Curven
könnten als Isochymen (von %v(i6s, Geschmack) den anschaulichen
Ausdruck einer ähnlichen Thatsache bilden wie die Isochromen für die
Netzhaut. Eine solche punktuelle Untersuchung des Geschmacksorganes
schien vielleicht deswegen nicht ein durchaus abenteuerliches Streben
zu sein, weil ja Oehrwall3) und nach ihm Kiesow4) eine große
Zahl von Geschmackspapillen in Rücksicht auf das Gesetz der specifi-
schen Energie der Sinne isolirt durchgeprüft haben. Solche Detail¬
untersuchungen brauchten ja nur mit Bezugnahme auf die Reiz¬
schwellen am Geschmacksorgane räumlich allseitig fortgeführt zu
1) Kirsch mann, Philos. Studien, VUE, S. 592 ff.
2) Hellpach, Philos. Studien, XV, S. 524 ff.
3) 0 ehr wall, Untersuchungen über den Geschmackssinn. Skand. Archiv f.
Physiol., II, S. 1 ff.
4' Kiesow, Schmeckversuche an einzelnen Papillen. Phil. Stud. XIV, S. 591. ff.