590
D. P. Hänig.
des Gehörs- und Gesichtssinnes durch die Physik umfassende Vor¬
arbeit und stete Förderung erfahren hat, so darf vielleicht die Psycho¬
logie des Geschmackssinnes erst noch auf eine gleichwerthige Unter¬
stützung durch die Chemie hoffen. Aber die Chemie würde sicher
die Grenzen, die ihr durch den einseitigen Standpunkt naturwissen¬
schaftlicher Betrachtungsweise gezogen sind, überschreiten, wenn sie
von sich aus die Thatsachen der unmittelbaren Erfahrung innerhalb
des Geschmackssinnes erklären wollte. Als Chemiker schließt Stern¬
berg seine Analyse der Schmecksubstanzen mit dem theoretischen
Satze, dass der Geschmack eine hervorragend constitutive Eigenschaft
der Verbindungen sei, als Psycholog würde er in Verlegenheit ge-
rathen, wenn er aus dieser These z. B. die Erscheinungen des Con¬
trastes ableiten sollte. Die Sternberg’schen Untersuchungen er¬
strecken sich bis jetzt nur auf die Qualitäten Süß und Bitter; zwischen
diesen beiden ist nun gerade ein gesetzmäßiges Contrastverhältniss,
soweit ich die einschlägige Literatur übersehen kann, nicht behauptet
worden, sondern nur als individuelles Vorkommniss*), aber die Be¬
gründung, dass der Contrast deshalb bezweifelt werden dürfte, weil
das Molecül der süß schmeckenden Verbindungen nicht grundver¬
schieden von dem der bitter schmeckenden ist, muss der Psycholog als
Erklärungsprincip entschieden abweisen.
Viertes Capitel.
Die Intensität der Geschmacksempfindungen.
Bei der experimentellen Untersuchung des Geschmackssinnes wird
der Psycholog unwillkürlich versucht sein, beständig hinüberzublicken
auf die wissenschaftliche Behandlung des Gesichtssinnes. Schon der
chemische Charakter in der Transformation der äußeren Beize inner¬
halb beider Sinne lässt im voraus ein solches Beginnen begreiflich
erscheinen; dieser Uebereinstimmung ist es wohl zum Theil auch zu¬
zuschreiben, dass aus dem wissenschaftlich ungleich mehr geförderten
Sinnesgebiete eine fast parallele Problemstellung in die Psychophysik
des Geschmackssinnes Eingang gefunden hat. Es sei hier nur daran
bitter schmeckenden Substanzen und ihrer Eigenschaft zu schmecken. Archiv f-
Physiol, u. Anatomie, physiol. Abth., 1898, S. 451—483.
1) Kiesow, Philos. Studien, X, S. 561.