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Grottl. Friedr. Lipps.
unendlich oftmaligen Bestimmung eines Systems von m Elementen
aus der Mannigfaltigkeit des Begriffsumfangs yon A kein Element
dieser Mannigfaltigkeit vor den anderen bevorzugt wird. Auch ist
daran festzuhalten, dass Wahrscheinlichkeit so viel wie relative
Häufigkeit bedeutet, wonach die große Wahrscheinlichkeit, bei großem
m die gesuchten Wer the von p und q innerhalb gewisser Grenzen
zu finden, keineswegs mit empirischer Gewissheit verwechselt werden
darf, sondern nur die Thatsache ausdrückt, dass bei einer oftmaligen
Bestimmung eines Systems von m Elementen die Werthe von p und
q mit überwiegender Häufigkeit zwischen jenen Grenzen sich halten
werden.
Wird dies beachtet, so wird der principielle Unterschied zwischen
der Wahrscheinlichkeitsbestimmung aus einem dem Gesammtumfange
des Begriffs von A ähnlichen Theile und derjenigen aus einem sehr
großen Theile dieses Begriffsumfangs nicht verkannt werden1). Denn
man wird alsdann nicht etwa auf Grund des Bernoulli’schen Theo¬
rems einen sehr großen Theil ohne weiteres als einen dem Ganzen ähn¬
lichen Theil voraussetzen. Lässt doch dieses Theorem nur erkennen,
dass bei Erfüllung der notliwendigen Bedingungen sehr große Theile
relativ häufiger als kleinere Theile dem Ganzen ähnlich sind und bei
gleich großen Theilen die Aehnlichkeit innerhalb gewisser Grenzen
häufiger ist als die Unähnlichkeit.
Es gibt sonach im ganzen drei Methoden für das induc-
1) Auf eine Verkennung dieses Unterschiedes weist hei Bernoulli die Be¬
merkung im viei'ten Capitel des vierten Theils der Ars conjectandi (Ostwald’s
Klassiker No. 108, S. 89): »Dabei [nämlich bei der Ermittelung der ‘Wahrschein¬
lichkeiten a posteriori aus einer großen Anzahl von Beobachtungen, die durch
das von ihm entwickelte Theorem ihre Begründung finden soll] muss angenommen
werden, dass jedes einzelne Ereigniss in ebenso vielen Fällen eintreten oder nicht
eintreten kann, als vorher bei einem gleichen Stande der Dinge beobachtet wurde,
dass er eingetreten oder nicht eingetreten ist. Denn z. B. wenn man beobachtet
hat, dass von 300 Menschen von dem Alter und der Constitution des Titius 200
vor Ablauf von 10 Jahren gestorben sind, die übrigen aber länger gelebt haben,
so kann man mit hinreichender Sicherheit folgern, dass es doppelt so viele Fälle
gibt, in welchen auch Titius innerhalb des nächsten Decenniums der Natur
den schuldigen Tribut leisten muss, als Fälle, in welchen er diesen Zeitpunkt über¬
leben kann«. Hier setzt demnach Bernoulli eine Aehnlichkeit der beiden De-
cennien voraus, während sein Theorem bei einer Vielheit solcher Zeiträume viel¬
mehr eine bestimmte gesetzmäßige Grruppirung der möglichen Wahrscheinlich -
keitswerthe um einen am häufigsten vorkommenden Werth verlangt.