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Gotti. Eriedr. Lipps.
Stufe des Erkennens mögliche und gebotene Auffassung und Ver-
werthung jener Thatsache kann daher nur als Vermuthung, als Hy¬
pothese sich behaupten, wofern sie durch andere, neue, bis jetzt
unbekannte Thatsachen nicht widerlegt wird. Sie gilt somit nicht
unabhängig von der Erfahrung, sondern auf Grund der Erfahrung,
gefordert durch den Trieb nach der Erkenntniss des Gegebenen.
Dén inductiv erkannten Axiomen der Lehre vom Den¬
ken im allgemeinen und der Mathematik insbesondere
treten so die gleichfalls inductiv erkannten Hypothesen
der auf Erfahrung gegründeten Natur- und Geisteswissen¬
schaften zur Seite.
§ 5. Empirische Gewissheit und Wahrscheinlichkeit.
Ist das von der Erfahrung an einer gegebenen Unterlage dar¬
gebotene Zusammen von A und B als eine für das Begreifen von
A wesentliche Zusammengehörigkeit aufzufassen, so tritt, da die Be¬
ziehung (A; B) dem vorliegenden Begriffe von A nicht zugehört, der
veränderte, aus A abgeleitete Denkgegenstand A' an die Stelle von A,
Ä wird durch die neue Beziehung im Vereine mit den für A be¬
reits geltenden Beziehungen logisch bestimmt. Der Begriff von Ä oder
— wie man auch sagen kann — der Begriff des veränderten, näher
bestimmten A hat nun, wie schon bemerkt wurde, entweder den
nämlichen Umfang wie der vorliegende Begriff von A oder einen
kleineren Umfang, so dass die Aufnahme von (A; B) in den Kreis
der schon erkannten Beziehungen entweder eine Ergänzung oder eine
Verengerung des vorliegenden Begriffs herbeiführt.
Das Uebersehen der an zweiter Stelle genannten Möglichkeit
bedingt einen wesentlichen Mangel in der herkömmlichen Auffassung
des inductiven Erkennens. Es wird nämlich bloß der Fall der, von
mir so genannten, Begriffsergänzung berücksichtigt, so dass es sich
nur darum handelt, aus der Beobachtung aller oder einzelner Er¬
scheinungsformen eines Denkgegenstandes oder — wie man zu sagen
pflegt — eines Begriffs eine für den ganzen Begriffsumfang gültige
nähere Bestimmung zu gewinnen.
Dies gilt zunächst von der sogenannten vollständigen Induction
des Aristoteles, die übrigens streng genommen gar nicht als Induction