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Robert Muller.
schien es wünschenswerth, beim Arbeiten mit dem Ergographen
immerhin auf dieselben zu achten, und beim weiteren Arbeiten
drängten sich auf Grund der Beobachtung eine Reihe von Bedenken
auf, welche der Inhalt der folgenden Auseinandersetzungen sind.
Die Frage, die im vorliegenden Falle zum Experimentiren mit
dem Ergographen geführt hatte, war eine recht eigenartige. Be¬
kanntlich ist zur Zeit das Interesse der Psychologen der Frage zu¬
gewandt, wie die willkürliche Arbeitsleistung der Muskulatur zu
rhythmischen Eindrücken sich verhalte. So interessant diese Frage
sein mag, so liegt hier doch eine ganze Reihe psychologischer Pro¬
bleme vor, welche auf die Relationen der Gehörsvorstellungen zu
Bewegungsvorgängen, Bewegungsempfindungen und Bewegungsvor¬
stellungen sich beziehen, und unter diesen Beziehungen ist vor allem
eine, welche culturhistorisch wie psychologisch und musiktheoretisch
gleiches Interesse besitzt, die Frage nach der psychologischen Grund¬
lage der »Neumen«1). Bekanntlich griff das Mittelalter bei der Auf¬
zeichnung von Melodien nicht zu der griechischen Notenschrift, die
ihm doch sicherlich bekannt war, sondern benutzte zur Mederlegung
der Normen des liturgischen Gesanges in der Kirche eine Zeichen¬
schrift, die ganz anderen Ursprunges war und als »Neumenschrift«
bezeichnet wurde. Diese hatte im Mittelalter weite Verbreitung: so
fand sie sich im 5.—7. Jahrhundert bei Juden, Griechen, Römern,
Germanen und Slaven und wird überall in den kirchlichen Vortrags-
büchem angewandt. Schon das Wort »Neuma«-weist auf den Ur¬
sprung dieser Zeichen aus Ausdrucksbewegungen hin, aus Willens¬
oder Gefühlsäußerungen, wie der Freude und der Furcht, die durch
Geberden der Hände, des Gesichtes, oder durch die ganze Körper¬
haltung zum Ausdruck gebracht werden. In diesem Sinne gebraucht
noch Notker von St. Gallen im XI. Jahrhundert des öfteren die
Worte: »Freude zeigen mit Neumen, wie wir es mit Worten nicht
können«2), und diese Bedeutung hat das Wort Neuma bis zur
Gegenwart im Spanischen behalten3). An den Neumen lässt sich
verfolgen, in welcher Weise aus diesen Ausdrucksbewegungen zunächst
1) Oskar Fleischer, Neumenstudien. 2 Bde. Leipzig 1895.
2) Yergl. Graff, Althochdeutscher Wortschatz. Berlin 1836. H. p. 1089 ff.
3) Diccionario naccional von Don Ramon Joaquin Dominguez. Madrid
1857.