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Ludwig Lange.
trachtet. Jede Bewegung ist daher absolut, wenn sie nicht in dieser
letzteren Beziehung genommen wird, oder nicht relativ ist«.
Dass hier die eigenthümliche dynamische Färbung der New-
ton’schen »absoluten Bewegung« völlig verflogen ist, sieht man auf
der Stelle. Und doch hat die Unterscheidung zwischen absoluter und
relativer Bewegung, wenn irgend welchen, nur dynamischen Werth.
In der bloßen Phoronomie ist sie nicht am Orte. Sie hat sich hier nur
durch eine einseitige Beachtung dessen eingeschlichen, was Newton
über die »Eigenthiimlichkeiten« der absoluten Bewegung ge¬
schrieben und in einem ganz anderen Sinne geschrieben hat, als seine
Ausleger es verstanden haben (s. o. S. 398 f.). Sie könnte durch die
Unterscheidung zwischen »primärer« und »secundärer« Bewegung sehr
zweckmäßig ersetzt werden, überall, wo sie in dem von Hutton an¬
gegebenen Sinne angewandt wird.
Dass man sich in der betrachteten Periode von mathematischer
Seite im allgemeinen wenig Scrupel über den Begriff der absoluten
Bewegung gemacht hat, dazu mag die Laplace’sche Theorie der
invariahelen Ebene Viel beigetragen haben. Wenn auch der Fixstern¬
himmel veränderlich ist, die invariabele Ebene nimmt doch eine feste
Lage im »absoluten Raume« ein, und sie ist, wenngleich nur mittelbar,
an etwas Materielles gebunden. Der absolute Raum ist nur ein
Wort, welches dahinter steht. Mit dieser und ähnlichen sehr bedenk¬
lichen Vermengungen theoretischer und praktischer Gesichtspunkte
mag man sich beruhigt haben. Dass man sich über die fundamental
so wichtige Frage nach dem Unterschiede zwischen absoluter und re¬
lativer Bewegung vielfach, ja meistens ganz hinweggesetzt hat, be¬
stätigt uns auch K. Fr. Gauß in einem von Göttingen den 29. Sep¬
tember 1837 an Möbius geschriebenen Briefe1) mit den folgenden
Worten: ». . Für diejenigen, die gern Alles aus dem höchsten und
allgemeinsten Gesichtspunkt betrachten, scheint mir in allen Schriften«
(über Bewegungslehre) »zu wenig auf die Unterscheidung des abso¬
luten und der relativen Räume eingegangen zu w'erden..... Ich
gehe übrigens gern zu, dass es nicht ganz leicht ist, gleich von
vornherein Alles aus dem höheren Standpunkt eines über der mate-
1) Mitgetheilt von 0. Neumann in den Sitzungsberichten der Kgl. Sachs.
Gesellsch. d. Wissensch. Math.-Phys. Classe, Bd. XXXI. p. 61 f.