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Ludwig Lange.
kein Grund vor, nach der einen oder anderen Seite von der geraden
Linie bez. von der gleichförmigen Bewegung abzuweichen. Der
Kern seiner Ableitung ist vielmehr der, dass Richtung und Geschwin¬
digkeit die bestimmenden Elemente eines Bewegungszustandes sind
(194), und darum nicht ohne äußere Ursache geändert werden kön¬
nen (277). Die unbewusste teleologische Berufung Eulers und An¬
derer auf das Princip der natürlichen Simplicität ist demnach bei
Kant vermieden. Gleichwohl würd dessen Causalableitung von ganz
ähnlichen Einwürfen getroffen, wie die Deduction Eulers. Kant
stellt seiner Begründung das Gesetz wörtlich in der folgenden Fassung
voran :
»Ein jeder Körper beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder
Bewegung in derselben Richtung und mit derselben Geschwindig¬
keit, wenn er nicht durch eine äußere Ursache genöthigt wird, diesen
Zustand zu verlassen«.
Nun frage ich aber : In Bezug worauf? In Bezug auf welchen
gegebenen Raum? Denn »Bewegung ist die Veränderung der äußeren
Verhältnisse zu einem gegebenen Raume«. Doch nicht in Bezug
auf jeden beliebigen gegebenen Raum! Das wäre ja — mit Kant
vorausgesetzt die gegenseitige Drehbarkeit gegebener Räume —
schlechterdings unmöglich! Oder meint Kant seinen absoluten
Raum? Doch auch mit Bezug auf ihn gibt es keine bestimmten Ge¬
setze der Bewegung und »jede Erfahrung muss ohne ihn angestellt
werden« (s. o.). Kant bleiht uns die Antwort schuldig. Sein
Beweis des Trägheitsgesetzes würde auf jegliche relative Bewegung
gleich gut passen, und doch ist es ein Ding der Unmöglichkeit, dass
in jeder beliebigen relativen Bewegung eines sich selbst überlassenen
Punktes Richtung und Geschwindigkeit unverändert bleiben. Eine
Aussage, welche nach den ausdrücklich zu Grunde gelegten Prin-
cipien von vornherein entweder als inhaltslos oder als positiv unwahr
gelten muss , kann man natürlicher Weise nicht durch Berufung auf
das Causalgesetz mit axiomatischer Evidenz ausstatten. Ein Räthsel
bleibt es, wie Kant dies hat übersehen können.
Wenden wir uns nun zu dem vierten und letzten Hauptstücke
des Werkes, der »Phänomenologie«, welche uns am eingehendsten
beschäftigen wird. Es kommt hier Kant in der Hauptsache darauf
an, zusammenhängend auseinanderzusetzen, in welcher Weise aus dei