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Alfred Köhler.
4. Delboeuf’s Gesetz.
Delboeuf hat nicht bloß eine mathematische Formulirung des
Weber’schen Gesetzes gegeben; er verbindet vielmehr mit dem Ge¬
setz eine so eigenartige Auffassung, dass man sagen kann, er hat eine
selbständige Theorie der Psychophysik entwickelt. Dabei haben sich
im Laufe der Zeit die Ansichten Delboeuf’s zum Theil geändert;
seine Lehre hat einige Modificationen erfahren und an Stelle der
ursprünglichen mathematischen Formulirung des Gesetzes ist neuer¬
dings eine etwas andere getreten. Es wird daher gut sein, den Ent¬
wickelungsgang der Theorie zu verfolgen. Die in Betracht kom¬
menden Werke Delboeuf’s sind besonders folgende:
1) Etude psychophysique. Bruxelles, 1873.
2) Théorie générale de la sensibilité. Bruxelles, 1876.
3) Examen critique de la loi psychophysique. Paris, 1883.
Diese Werke mögen im Folgenden der Kürze halber einfach
durch die vorstehenden Nummern bezeichnet -werden.
Delboeuf beginnt in (1) damit, das Weber’sche und F ech-
ner’sche Gesetz einer Kritik zu unterziehen; er bespricht dabei die
Mängel und Schwierigkeiten, die das Gesetz namentlich bezüglich der
Schwelle und der damit zusammenhängenden negativen Empfindun¬
gen aufweist. Die Vermeidung dieser Schwierigkeiten bildet für
Delboeuf bei der Aufstellung seiner Formulirung des Gesetzes einen
maßgebenden Gesichtspunkt. Als Ausgangspunkt für sein Gesetz
dienen ihm folgende beiden Hauptbemerkungen (1. S. 27):
1) Die Intensität der Empfindung hängt nicht allein ab von der
Intensität des Reizes, sondern auch von der Menge (masse) der Em¬
pfindlichkeit (sensibilité) oder der Kraft (force), welche die bezüglichen
Organe in dem Augenblick besitzen; der Vorrath an Empfindungs¬
vermögen wird durch die Einwirkung eines Reizes erschöpft, so dass
für einen nachfolgenden Reiz das empfindliche Wesen eigentlich sich
in anderen Bedingungen befindet. So ist z. B. die Empfindung der
Kälte oder Wärme beim Beginn der Einwirkung des Reizes viel leb¬
hafter als nach einiger Zeit.
2) Es existirt eine gewisse Quantität Kraft oder Empfindlichkeit,
welche nicht verbraucht werden darf, weil sie von vom herein nöthig