Untersuchungen über das Tongedächtniss.
Von
H. K. Wolfe.
Mit Tafel V.
Wenn Plato im Theaetet (197 C) das Gedächtniss mit einem
Taubenschlage verglich, in welchem verschiedenartige Vögel aufhe-
wahrt werden, die uns zwar gehören, dennoch aber, um brauchbar zu
sein, gesucht und nochmals gefangen werden müssen, so hat er nur
der gewöhnlichen Ansicht von der Natur des Gedächtnisses Ausdruck
gegeben. Bis zum heutigen Tage wird von den meisten Menschen
dasselbe einfach als eine Schatzkammer für alle Vorstellungen ange¬
sehen. Als Theorie zur Erklärung der Erscheinungen hat diese An¬
sicht aber kaum jemals gedient. Im Theaetet (191 Dff.) wird das
Wesen des Gedächtnisses außerdem noch durch das Wirken eines
Siegels auf Wachs veranschaulicht. Ob Plato sich diesen Vorgang als
Erklärung oder als bloßes Bild dachte, mag dahingestellt sein. Ohne
Zweifel wird man sich einer Erklärung auf diesem Wege eher nähern
als durch die erste Annahme.
In der That hat sich jene Erklärung fähig erwiesen, einen langen
Entwickelungsgang zu durchlaufen. Einen großen Schritt that man
hier, als anstatt der Seele das Gehirn als Gedächtnissträger ange¬
nommenwurde, eine Annahme, welche namentlich auch von Descar¬
tes gemacht wurde. Seitdem ist man mehrfach bemüht gewesen,
das Gedächtniss in verschiedenen Theilen des Nervensystems zu loca-
lisiren. Unter den jetzigen Psychologen findet man in dieser Be¬
ziehung ziemlich übereinstimmend die Annahme, dass bei den Be-