Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.
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wiokelt hatte, mag die Tragweite seiner Untersuchungen anfänglich
überschätzt haben. Er fasste ganz die gleiche Meinung wie Newton,
dass sich aus den Centrifugalkräften der Körper ihre wirklichen
und absoluten Bewegungen erkennen ließen, und theilte dies eines
Tages Leibniz mit, welcher, wie es scheint, zunächst davon über¬
zeugt wurde. Dass hier ein Einfluss Newtons vorliegt, ist nicht
wahrscheinlich. Die Idee, welche hier in Frage steht, liegt so nahe,
dass sie sehr leicht in mehreren Köpfen unabhängig entstehen kann. ')
Um so bemerkenswerther ist es nun, dass Leibniz und Huygens
späterhin ganz unabhängig von einander das Bedenkliche der New-
ton’schen Lehre erkannt und dieselbe verlassen haben. Vollkommen
einig sind sie dann freilich nicht geworden. Huygens ist, soweit sich
aus seinen Briefen mit Leibniz entnehmen lässt, wenige Jahre vor
seinem Tode zu der Ansicht gelangt, dass die Bewegung durchaus
ihrem innersten Wesen nach etwas Eeciprokes sei, wobei er aber
von der Cartesianischen Forderung der Contiguität absieht. Leib¬
niz hingegen neigt sich überhaupt keiner Ansicht mit absoluter Con-
sequenz zu. Die geometrische Richtigkeit des Keciprocitätsaxiomes
erkennt er vollkommen an. Aber außer dem rein Geometrischen will
er ein höheres Princip beachtet wissen, die Kraft; und ihretwegen
sei man unter Umständen doch gezwungen, dem einen von zwei in
Distanzänderung begriffenen Körpern die Bewegung zuzuschreiben
und nicht dem anderen, wenn gleich geometrisch beide Annahmen
auf eins hinausliefen. Leibniz wird hier, wie man sieht, durch seine
Grundansichten über die principielle Bedeutung der Kraft geleitet.
1) Irrthümlich ist die hier und da anzutreffende Angabe, wonach Newton und
Leibniz in Paris zusammengetroffen sein sollen. Vgl. »Correspondence of Sir
Isaac Newton«, by J. E dlesto n, London 1850, wo in dem vorangestellten chro¬
nologischen Ueberblick über Newtons Leben von einem Aufenthalte Newtons
ln Paris zwischen 1672 und 1676 nicht die Rede ist. Leibniz hat auch bei seiner
sehr kurzen Anwesenheit in London (Frühjahr 1673 und Herbst 1676) mit Newton
gar nicht persönlich, sondern nur durch Briefe verkehrt, in denen Nichts enthalten
was hier irgend in Betracht käme. Vgl. Üb er weg-Heinz e, Grundriss der
eschiehte der Philosophie EU1 6 S. 137. Es ist übrigens an sich recht wahrschein-
lch, dass Newton selbst seine Ansichten über Raum, Zeit und Bewegung noch
■uehtbei der ersten flüchtigen Conception seiner Gravitationstheorie 1666, sondern
detV*** ^Cr systematischen Wiederaufnahme seiner Untersuchungen 1678 gehil-