Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes. 343
ersten Mal in Anwendung gebrachte triviale geocentrische Bewegungs¬
begriff besteht nun bemerkenswerther Weise ganz unabhängig von
der Wissenschaft im praktischen Sprachgebrauche fort : wenn wir im
Verkehr einen Gegenstand bewegt oder ruhig nennen, so ist bei wei¬
tem in der Mehrzahl der Fälle gemeint, dass er seinen geocentrischen
Ort verändert oder beibehält. Neben dieser geocentrischen Form
kommen übrigens auch die ihr voran gegangenen Formen des Bewe-
gungsbegriffes unter Umständen noch immer in Anwendung. Wenn
zwei Luftschiffe eine Wolkenschicht durchschneiden, welche hinreicht,
den Insassen beider die Erde zu verbergen, ohne aber die gegenseitige
Sichtbarkeit zu beeinträchtigen, so ist jeder Luftschiffer geneigt, den
Ort des fremden Ballons auf seinen eigenen Ballon zu beziehen, ohne
nach den geocentrischen Orten zu fragen. Eine dem ähnliche Spur
von Egoismus liegt ja schließlich in dem geocentrischen Bewegungs¬
begriffe selbst.
Die fernere Entwickelung ist nun schon bedingt durch ein gewisses
Maß theoretischer Reflexion. Zunächst führt uns ein Rückblick auf
die verschiedenen Anwendungen des Begriffes zu einer Ahnung der
Relativität aller Bewegung. M. a. W. es drängt sich uns die Bemer¬
kung auf, dass Bewegungen formell, geometrisch, völlig äquivalent
sein können, von denen die eine auf uns selbst, die andere auf unsern
nächsten Aufenthaltsraum, die dritte auf die Erde bezogen ist. Dabei
bleibt indessen der geocentrische Bewegungsbegriff infolge seiner
praktischen Tragweite der tatsächlich maßgebende, und aus der Er-
kenntniss, dass eine »Bewegung« in der seltener angewandten weiteren
Bedeutung nicht nothwendig eine »Bewegung« im gewöhnlichen
engeren Sinne zu sein braucht, erwächst die vorgeschichtliche Unter- .
Scheidung zwischen »wahren« und »scheinbaren« Bewegungen. Wir
gewöhnen uns, jedem Gegenstände nur eine Bewegung beizulegeiq als
sei sie ihm eigentümlich, und übersehen, weil die geocentrische Be-
zngnahme eine stillschweigende, keine ausgesprochene ist, nur gar zu
leicht, dass in alle unsere Urtheile über »wirkliche« Bewegungen die
Vorstellung der Erde mit eingeht. Und dieses Vorurteil — denn
mehr ist es bis hierher, wie Jedermann zugeben dürfte, nicht — als
sei die Bewegung etwas dem bewegten Körper Eigentümliches,
nichts Relatives, begleitet uns nun ip die Wissenschaft und gibt hier
Zu ^en wunderlichsten Paradoxien die Veranlassung. Die Umwand-