Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.
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liehen Leben eine nicht minder bedeutende Rolle spielen, als in der
Wissenschaft. Nur zu leicht geschieht es hier, nachdem Lehen und
Wissenschaft schon längst in der Bedeutung des Wortes auseinander
gegangen sind, dass dennoch trivial-praktische Vorstellungen, ohne
als solche erkannt zu werden, auf theoretisches Gebiet übertragen
werden durch Vermittelung des gemeinsamen Lautbildes. So ent¬
stehen aus dem Widerspruch des Sprachgebrauches allerhand Paradoxa,
welche um so größeres Interesse verdienen, als sie von jeher die Thä-
tigkeit des »esprit métaphysique« besonders dringend herausgefordert
haben. Man glaubteeinen gegenseitigen Widerstreit objectiver Wahr-
nehmungsthatsachen schlichten zu sollen, und in Wirklichkeit lagen
bloß zwei unpassender Weise durch das nämliche Symbol verbundene
subj ective Vorstellungen im Streite, deren thatsächliche Unvereinbarkeit
man nur durch Umänderung der Bezeichnungsweise zum Ausdrucke zu
bringen brauchte, um den »inneren Widersprüchen« für immer ein Ende
zu machen. Immerhin mag anerkannt werden, dass solche metaphysische
Constructionen vorübergehend der Wissenschaft ganz dienlich, ja un¬
entbehrlich gewesen sind. Sobald sich aber herausstellt, dass durch
Einführung einer neuenNomenclatur die vermeintlichobjectivenWider-
sprüche spurlos beseitigt werden können, so wird der Umweg durch das
dunklere Gebiet der Metaphysik dem directen Wege hintanzustellen
sein : hierüber dürften Freund und Feind der Metaphysik doch wohl
nur eine Meinung haben.
Noch heutigen Tags ist der wissenschaftliche Begriff der Bewe¬
gung nicht am Ziel seiner Entwickelung angelangt. Wenn wir es nun
versuchen, ihn diesem Ziel etwas rascher zuzuführen, als die bloße
gegenseitige Reaction zwischen der Definition und ihren Anwen¬
dungen es im Stande ist, so haben wir im voraus diejenige Seite näher
zu bezeichnen, nach welcher hin wir eine Entwickelung noch für noth-
wendig halten. Nicht alle Seiten des Bewegungsbegriffes sollen hier
in Betracht gezogen werden. Es kommt uns vielmehr nur darauf an :
auf Grund des bisherigen Entwickelungsganges festzustellen, was aus
den wissenschaftlichen Specialbegriffen der »wirklichen« Bewegung im
Gegensätze zur »scheinbaren«, der »absoluten« Bewegung im Gegen¬
sätze zur »relativen« einmal werden wird, und die nothwendige Ent-
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