Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.
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den Bewegungsbegriff geltend. Er erklärt sich mit Nachdruck gegen
die Aristotelische Forderung, dass der locirende und der locirte
Körper in größter Nähe bei einander sein müssten, dass.also jeder be¬
wegte Körper sich unmittelbar bei (sopra) einem anderen unbeweg¬
lichen vorüber bewege; und er will für die Contiguität eine bloße Re¬
lation eingesetzt wissen,*) ohne dass man freilich behaupten dürfte,
er halte die wirkliche Bewegung für etwas ihrem Wesen nach sinnlich
Relatives. Im Gegentheil erklärt er die von Copernicus gelehrte
wirkliche Bewegung der Erde für etwas Transcendentes, was man
sogar nur anerkennen könne, wenn man durch Vemunftgründe seinen
Sinnen Gewalt anthut (357).2) Die Einsicht in den Galilei-
schen Bewegungsbegriff ist insofern ziemlich schwierig, als eine eigent¬
liche Definition der Bewegung gar nicht aufgestellt wird. Immerhin
aber lässt sich für Galilei — was für seine Vorgänger Copernicus
und Kepler kaum Sinn gehabt hätte — eine Definition reconstruirai,
m. a. W. ein Schema angeben, in welches seine Anwendungen der
Ausdrücke »wahre Bewegung« und »scheinbare Bewegung« nach Mög¬
lichkeit hineinpassen. Dieses Schema ist folgendes.
Sein und Geschehen in ihrer Wirklichkeit erkennen, heißt:
Denken und Handeln der N a t u r in Gedanken so getreu als möglich
zu wiederholen. Die Natur aber erreicht alle ihre Zwecke auf mög¬
lichst einfachem Wege, sie ist ein zweckthätiges, ein denkendes Wesen.
Ihre räumlichen Operationen führt sie mit Rücksicht auf ihren An¬
schauungsraum aus ; und die Bewegungen sind dem entsprechend in¬
soweit wirklich, als sie sich auf den Anschauungsraum der
Natur beziehen, was an ihrer größtmöglichen Simplicität erkannt
wird.
Um zu zeigen, dass dieser teleologische Gedankengang Galileis
»Dialogen« wirklich zu Grunde liegt, wenn gleich er nirgends zusam¬
menhängend ausgeführt wird, brauche ich nur eine Anzahl von Stellen
hervorzuheben.
Sagredo (288) : »Zwei, drei Mal habe ich in den Werken dieses
Autors (Aristoteles) beobachtet, wie er zum Beweise, die Sache ver-
b Opere, Firenze 1842—1856. Tomo I. p. 130.
2) Seitenzahlen des ersten Bandes der Opere : »Dialogo intorno ai due massimi
sistemi del mondo«.