562 Theodor Heller. Studien zur Blinden-Psychologie.
treten hier in Wirksamkeit, sondern nur die ihnen entsprechenden
Gemütsbewegungen. Wenn deshalb Hitschmann behauptet, dass
zahlreiche Werke der Dichtkunst einen ganz verschiedenen Ein¬
druck in dem Gemüth eines sehenden und eines blinden Lesers
hervorrufen müssten, dass der Blinde nur solche Dichtungen zu ge¬
nießen vermöge, welche von Blinden und für Blinde geschrieben
seien *), so irrt er, weil er die wahre Bedeutung der SVn verkennt.
Sie sind nur der Hintergrund, die Stützen für jene Gefühle, welche
es dem Blinden ermöglichen, sich den Stimmungen anzupassen,
welche der Dichter bei seinen sehenden Lesern hervorbringen wollte.
Wenn wir den Begriff der Surrogatvorstellungen auf beide Kate¬
gorien ausgedehnt haben, so ist dies insofern berechtigt, als die¬
selben überhaupt Nothbehelfe darstellen, welche durch den Zwie¬
spalt der Vorstellungswelt des Blinden und der des Sehenden, die
ihren Niederschlag in der Sprache gefunden hat, verursacht werden ;
aber die Bedeutung der SVj liegt in der Vorstellungsseite, die der
SVn in der Gefühlsseite des Blinden begründet.
Dass die besprochenen Surrogatvorstellungen hauptsächlich dem
Gehörssinn angehören, erklärt sich daraus, dass dieser Sinn beim
Blinden vorzüglich der Träger ästhetischer Wirkungen ist. Die
Gefiihlscomponenten desselben sind nicht einfach an die Empfin¬
dung selbst gebunden, wie beim Tast- oder Geruchssinn, sondern
sie entsprechen ohne Zweifel Stimmungen, die wegen ihrer com-
plexen Beschaffenheit eine mannigfache Beziehung ermöglichen.
Die vollkommensten SVn sind demnach jene, welche dem Gehör,
dem ästhetischen Sinn des Blinden, angehören, eben weil dieser
complexe Gefühlswirkungen hervorbringt, die betreffenden SV sich
daher von jenen eindeutigen Verbindungen, denen sie ihren Ur¬
sprung verdanken, am leichtesten loslösen können.
1) Hitschmann, Zeitschr. f. Psychologie u. Physiologie d. Sinnesorgane, III.