Studien zur Blinden-Psychologie.
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dann, wenn er sich denselben mit seinem ganzen Körper accom-
modirt hat. Die analoge Function, welche im Auge ein einfacher, in
seiner Wirkungsweise freilich noch nicht völlig aufgeklärter Muskel¬
mechanismus vollzieht, der, unserer Willkür entrückt, von selbst die
entsprechenden Einstellungen des Sehorgans vornimmt, beansprucht
beim Tastsinn die gesammte Masse des Leibes, dessen Bewegungen
stets in bestimmter Absicht erfolgen. »Trotzdem dass auch dieser
Unterschied im Grunde nur ein gradueller ist, so wird er doch im
wirklichen Leben von so großer Bedeutung, dass er eine durch¬
greifende Scheidung beider Sinne nothwendig macht. Die Muskeln,
welche das Auge für Nähe und Ferne adaptiren, sind integrirende
Theile dieses Sinnesorgans, ihre Verrichtungen sind daher so
unmittelbar an die Function des Sehens selber geknüpft, dass sie
zugleich mit dieser mit einer Art mechanischer Nothwendigheit sich
vollziehen und niemals zu bewussten Handlungen werden. Ganz
anders verhält es sich mit der äußeren Haut. Die Muskeln der
Fortbewegung des Körpers stehen zu dieser nur in einer ganz
äußerlichen Beziehung, in keiner anderen als zu jedem anderen
Sinne, nur insofern nämlich, als überhaupt die mit dem Ortswechsel
des Subjectes wechselnden Eindrücke auf einen Wechsel der Objecte
schließen lassen. Hier gründet sich daher die Unterscheidung von
Nähe und Ferne erst auf ein aus einer Reihe gewollter und bewusster
langsam vollzogener Bewegungen gestütztes bewusstes Urtheil.«1)
Die Vorstellung der Lage des Objects, welche sich zusammensetzt
aus den Componenten der Richtung und Entfernung, enthält nun
allerdings keinen Bestandtheil, der nicht schon bei der Auffassung
der Objecte selbst in Anwendung käme. Aber die wichtige Unter¬
scheidung zwischen beiden Verhältnissen liegt doch darin, dass die
Begrenzungslinien der Objecte Leitlinien für das Tastorgan dar¬
stellen und auf diese Weise den Weg unmittelbar vorzeichnen, den
die tastende Hand oder der Gesammtkörper bei der Auffassung
einer Strecke zu durchmessen hat, während die Bestimmung der
Richtung und Entfernung, die sich auf die Lage des Objects im
Raume bezieht, in der Regel aller Anhaltspunkte entbehrt. Dem¬
nach muss der Blinde, wenn er die führende Hand des Sehenden
1) Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, 1862, S. 31 f.