'Studien zur Blinden-Psychologie.
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isolirt im Bewusstsein bleiben, sondern vielmehr Anstöße zu einer
Reihe apperceptiver und associativer Beziehungen, zu Combinationen
wechselnder Art geben, die dem Blinden einen theilweisen Ersatz
für den Ausfall directer Wahrnehmungen ermöglichen. Aber die
SV bleiben insofern bevorzugt, als sie in dem Wechsel möglicher
Beziehungen den festen, weil auf unmittelbarer Auffassung beruhen¬
den Grundstein darstellen.
Die Namen, welche sich auf specifische Eigenthümlichkeiten
des Gesichtssinns beziehen, sind für den Blinden zunächst nichts
als leerer Schall. Der Blinde erfährt aber fortwährend durch Lectüre
und Umgang die hohe Bedeutung, welche die Verhältnisse des
Lichtsinns für den Sehenden besitzen. Die Lichtberaubten fühlen
sich namentlich mächtig angezogen von poetischen Kunstwerken1),
indem die Rhythmik, der ästhetische Eindruck des Reims, die
klangvollen Worte zunächst ihr musikalisches Interesse erregen, was
den Umstand erklärt, dass Blinde für Dichtungen Vorliebe zeigen,
die ihnen wegen der Hervorhebung von Beziehungen des Gesichts¬
sinns ihrem wahren Inhalte nach kaum verständlich sein können.
Die poetische Sprache mit ihren zahlreichen Umschreibungen und
Vergleichen gibt aber den wichtigsten Anlass zur Entwicklung von
SVu, die selbstverständlich sämmtlich disparater Natur sind und
den verschiedensten Sinnesgebieten angehören können. Selbst für
denselben Farbennamen ergibt sich im Anfang ein eigenthümliches
Schwanken der SV nach den vieldeutigen Beziehungen, die zwischen
Farbennamen und Objecten möglich sind. Da es sich hierbei viel¬
fach ereignen muss, dass eine SV, welche ihre Entstehung der
charakteristischen Verbindung der Farbe mit einem bestimmten Ob¬
ject verdankt, in anderen Fällen nicht anwendbar ist, dass also eine
vorher gewonnene SV einer anderen auf diese specielle Verbindung
bezüglichen Platz machen muss, so wird der Blinde schließlich zu
umfassenden SV, denen der Charakter relativer Constanz zukommt,
geleitet, welche in den meisten Fällen lediglich dem Gehörssinn
angehören. Hierbei sind nun zwei Möglichkeiten vorhanden.
Entweder gibt der Klang der Worte selber die Veranlassung zur Aus-
1) Vergleiche hierzu Hitschmann, »Der Blinde und die Kunst«, Viertel¬
jahrsschrift für wissenschaftliche Phüosophie, XVII, S. 312 £F.