Studien zur Blinden-Psychologie.
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In neuerer Zeit hat die Blindenpädagogik eine Disciplin aus¬
gebildet, welche, abgesehen von ihrem hohen Werthe für die Ent¬
wicklung des räumlichen Tastens, auch für die Zwecke der Vor-
stellungscontrole in ausgezeichneter Weise befähigt erscheint. Wenn
der Blinde in der Lage ist, ein ihm vorgelegtes Object plastisch
nachzubilden, so kann man sich der Ueberzeugung hingeben, dass
derselbe zu einer adäquaten Vorstellung des betreffenden Gegen¬
standes gelangt ist. Die Betrachtung der Tastbewegungen, welche
jene Blinden üben, die auf diese Art einen Beweis für ihre exacte
räumliche Auffassung erbracht haben, lässt erkennen, dass diese Be¬
wegungen stets in einer bestimmten regelmäßigen Anordnung erfolgen,
die bei allen Blinden, welche auf der gleichen Höhe der Tastent¬
wicklung angelangt sind, überdies noch einen übereinstimmenden
Charakter aufweist. Dieses spontan hervorgebrachte Tastsystem
wird nun die Grundlage für unsere nächsten Betrachtungen bilden,
während wir uns erst im folgenden Abschnitt den Thatsachen der
Tastentwicklung zuwenden wollen.
Man hat den Vorgang beim analysirenden Tasten sehr einfach
derart beschrieben, dass man angab, der Blinde bewege die Spitze
seines Tastfingers längs der Begrenzungslinien des Gegenstandes,
dessen Conturen er auf diese Weise gleichsam nachzeichne, um
derart ein Bild des betasteten Objectes zu erhalten1). Das synthetische
Tasten wird hierbei als eine unvollkommene Vorstufe dieser genaueren
Tastart aufgefasst. Das also beschriebene Tasten entspricht nun in
der That den denkbar einfachsten Verhältnissen, da es unter allen
Umständen innerhalb der Bewegungssphäre des Armes anwendbar
ist. Wenn aber eine solche Nachzeichnung möglich sein soll, dann
darf der Gegenstand während des Tastaktes seine Lage zum Be¬
obachter nicht ändern. Nun ergibt eine einfache Beobachtung, dass
hierbei nicht alle Bewegungen des Tastfingers in derselben bequemen
Weise erfolgen können, indem namentlich zur Compensation der
Armschwere ein wechselnder Aufwand von Energie erforderlich ist.
Demnach werden die einzelnen Bewegungen, selbst innerhalb der-
1) Diderot, Lettre sur les aveugles. Friedrich Schuster, Ueber die
Sinneswahrnehmung des Blinden, Berlin 1880, S. 12. Aehnlich auch Hocheisen,
Der Muskelsinn des Blinden, S. 31.