Volltext: Studien zur Blinden-Psychologie, Fortsetzung (11)

Studien zur Blinden-Psychologie. 
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Der Umstand, dass die zum Lippen- und Zungentasten befähig¬ 
ten Blinden genaue zahlenmäßige Angaben betreffs der einzelnen 
Bliithenbestandtheile zu machen in der Lage sind, erweckt den 
Schein, als ob dieser Beschreibung auch eine genaue Vorstellung 
des Gesammtobjectes zu Grunde liege. Dass dies keineswegs der 
Fall ist, ergeben einige Mittheilungen, welche ich der oben erwähn¬ 
ten Versuchsperson verdanke. Bei der Auffassung der äußeren Form 
einer Blüthe leiten die Blinde häufig jene Vergleiche, welche die 
Sehenden mit bekannten Gebrauchsgegenständen vollzogen haben. 
So schwebte ihr bei der Untersuchung einer Campanula-Blüthe die 
Vorstellung einer kleinen Glocke vor, bei anderen Blüthen, deren 
Namen keinen bestimmten Hinweis auf ihre Grundform enthalten, 
sah sie sich oft veranlasst, ihren Lehrer zu fragen, mit welchem 
bekannten Gegenstand die Blüthenform einige Aehnlichkeit habe. 
So waltet bei ihr das Bestreben ob, die complicirten Verhältnisse 
auf einige einfache Grundformen zurückzuführen. Wenn sich die 
Blinde auch noch so sehr bemüht, alle Details in der Vor¬ 
stellung festzuhalten, so entschwinden dieselben doch alsbald wieder 
ihrem Gedächtnisse. Der Vorstellung der inneren Organisation 
einer Blüthe scheinen fast unüberwindliche Schwierigkeiten zu be¬ 
gegnen. Alle diesbezüglichen Eindrücke, welche die Versuchsperson 
bei der unmittelbaren Beobachtung des Gegenstandes gewann, ver¬ 
flüchtigten sich alsbald: »das Tasten mit Lippe und Zunge kann 
überhaupt nicht gemerkt werden« 1). 
Nach diesen Mittheilungen erscheint es ziemlich zweifelhaft, ob 
das Lippen- und Zungentasten so bedeutende Vortheile darbietet, 
dass diese für die aufgewendete Zeit und Mühe entschädigen. Zur 
Entwicklung präciser Baumvorstellungen unterhalb der Grenzen des 
manuellen Tastens wird der Blinde hierdurch in keinem Falle be¬ 
fähigt. Vielleicht ergeben sich hieraus neue Gesichtspunkte für den 
linken Hand festgehaltenen Nadel hin- und herbewegt und nach Auffindung des 
Oehres rasch in dasselbe eingedrückt. Nun brachte die rechte Hand den Faden 
heran und führte ihn unter Contrôle der Zunge in das Oehr, worauf der Faden 
mit den Zähnen ergriffen und vollends durchgezogen wurde. 
1) Ich citire diesen Ausspruch der sehr intelligenten Versuchsperson wörtlich 
aus meinem Versuchsprotokoll.
	        
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