Volltext: Studien zur Blinden-Psychologie, Fortsetzung (11)

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Theodor Heller. 
scheint, dass eine Versuchsperson bei Afficirung der Unterlippe Be¬ 
wegungen der Zunge kaum zu unterdrücken vermochte. Aber nicht 
bei allen Blinden findet sich diese Entwicklung eines besonderen 
Tastwerkzeuges für feine räumliche Unterscheidungen. Unter 50 Zög¬ 
lingen der Wiener Blindenanstalt Hohe Warte sind nur 8, 5 Mäd¬ 
chen und 3 Knaben, mit Lippe und Zunge in entsprechender Weise 
zu tasten befähigt. Die Anwendung dieser Hautpartien für das 
räumliche Tasten erfolgt immer spontan; Versuche, auch die anderen 
Blinden zu derartigen Tastleistungen zu befähigen, wurden schlie߬ 
lich als zwecklos aufgegeben. 
Das Lippen- und Zungentasten kommt hauptsächlich bei botani¬ 
schen Untersuchungen in Betracht. Wird den betreffenden Blinden 
eine Blüthe vorgelegt, so versuchen dieselben zunächst die Verhält¬ 
nisse der Form durch das manuelle Tasten festzustellen. Dies ge¬ 
lingt aber kaum in befriedigender Weise: durch die gröbere Be¬ 
rührung der Finger erleidet das Object störende Formveränderungen, 
und um diese Fehler auszugleichen, kommt nunmehr das Lippen¬ 
tasten, für welches schon eine leise Berührung genügt, in Verwen¬ 
dung1). Hier erfolgt aber auch die genaue Bestimmung der Ober¬ 
flächenbeschaffenheit. Selbst bei der Betastung von Objecten, für 
deren genaue Auffassung das manuelle Tasten ausreicht, wird für 
die Bestimmung jener Qualitäten, die sich zwischen Rauhheit und 
Glätte abstufen, das Lippentasten in Anwendung gebracht. Die ge¬ 
naue Analyse der Blüthe ist nun Aufgabe des Zungentastens. Durch 
rasch erfolgende Bewegungen der Zunge zählt der Blinde die Blu¬ 
men- und Kelchblätter, er dringt unter günstigen Verhältnissen auch 
in das Innere der Blüthe ein und sucht die Anzahl der Staubge¬ 
fäße festzustellen. Wird dem Blinden gestattet, das Tastobject in 
seine Bestandtheile zu zerlegen, so erstrecken sich die Bestimmungen 
auf alle Theile der inneren Organisation. In dieser Weise hat vor 
meinen Augen ein blindes Mädchen, Wilhelmine Sch., die Bestim¬ 
mung einer Blüthe von Amygdalus communis bis in das kleinste 
Detail vorgenommen"2). 
1} Bemerkenswerth erscheint es mir, dass die Lippen vor und während des 
Tastaktes wiederholt befeuchtet werden. 
2) Von dieser Tastart machte das Mädchen auch beim Einfädelu einer Näh¬ 
nadel Gebrauch. Die Zungenspitze wurde längs des oberen Theils der mit der
	        
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