Studien zur Blinden-Psychologie.
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Wörter auf einander: Weinlaub, Rebe, Winzer, Keller. Statt
»Keller« wurde »Kelter« gelesen.
6) Beim Lesen der sinnlosen Wörter waT bei einer Versuchs¬
person eine rhythmische Gliederung des Lesestoffes wahrzunehmen.
Je vier Wörter wurden gleichsam als ein Takt zusammengefasst.
7) Streute ich in die zweite Versuchsreihe einige sinnvolle
Wörter ein, so ergab sich eine bedeutende Zunahme der Ver¬
lesungen zu Gunsten der letzteren. So wurden statt zweisilbiger
Zusammenstellungen, welche sich von bekannten Eigennamen nur
durch Veränderung der Vokale unterschieden, fast regelmäßig die
betreffenden Eigennamen gelesen, so z. B. statt Radulf Rudolf,
statt Rubirt — Robert. Diese Verlesungen ergaben sich vorzugs¬
weise bei der Verwendung der Brailleschrift.
8) Eine Verwechslung symmetrischer Zeichen kam bei der
Brailleschrift nur in den seltensten Fällen vor.
B. Das Tasten mit Lippe und Zunge.
Wenn wir in den vorhergehenden Abschnitten die Fingerspitzen
als die Stellen des deutlichsten Tastens bezeichneten, so trifft dies
wohl für das manuelle Tasten, nicht aber für die gesammte peri¬
phere Sensibilität zu. Unter allen Hautstellen weist die Zungen¬
spitze das feinste extensive Unterscheidungsvermögen auf; diese ver¬
mag noch zwei Eindrücke als getrennt wahrzunehmen, welche der
Fingerspitze in einen einzigen Eindruck zusammenfließen1). Die
Lippen nehmen in Bezug auf ihren Raumsinn erst die dritte Stelle
ein. Aber sie erscheinen dadurch vor den erwähnten Haut¬
partien bevorzugt, dass hier namentlich bei Berührung des gewölb¬
ten Randes eine geringe Intensität genügt, um deutliche Unterschei¬
dungen zu ermöglichen. Lippen und Zunge bilden ein physiolo¬
gisch zusammengehöriges Tastorgan, was daraus hervorzugehen
1) Einen Hinweis auf die feine Sensibilität der Zungenspitze enthält die
Thatsache, dass es selbst bei Verwendung zehnprocentiger Cocäfnlösungen nicht
gelungen ist, diese Hautstelle vollkommen zu anästhesiren. Kiesow, Ueber die
Wirkung des Cocain und der Gymnemasäure. Philos. Studien, IX, S. 515.
Wandt, Philos. Studien. XI. 31