Studien zur Blinden-Psychologie.
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des Blinden möglich ist. Wir können jene Tastart als die voll¬
kommenste betrachten, die von Blinden verwendet wird, welche zur
Entwicklung adäquater Raumvorstellungen befähigt sind. Durch
directe Methoden, etwa durch das Beschreiben oder das Wieder¬
erkennen der Objecte, ist aber eine klare Einsicht in die Verhält¬
nisse der Auffassung nicht zu erreichen. Bis jetzt hat man allgemein
angenommen, dass der Blinde, welcher ein Object zu beschreiben
oder wiederzuerkennen vermag, ein klares Bild des Objectes erlangt
haben müsse. Man dachte hierbei stets an die Verhältnisse des
Sehenden, und wie in vielen Fällen, so hat auch hier das einfache
Hinübertragen von Beobachtungen an sehenden Individuen auf Blinde
einen groben Irrthum geschaffen. Wenn der Sehende ein Object
zum Zwecke der Beschreibung betrachtet, so prägt er sich das Bild
desselben in allen Einzelheiten genau ein und liest bei der folgenden
Beschreibung die hervorzuhebenden Kriterien von diesem Bilde
gleichsam ab. Aber auch hier ist die genaue Beschreibung kein
hinreichendes Zeugniss für das deutliche Vorstellen. Dies wird
namentlich dann ersichtlich, wenn man den umgekehrten Weg geht
als im angeführten Falle, wenn nämlich aus einer vorliegenden
Beschreibung das Bild des Gegenstandes erst construirt werden soll.
Die angeführten Merkmale können dann ganz wohl gedächtniss-
mäßig eingeprägt werden, ohne dass der Schilderung eine präcise
Vorstellung zu entsprechen braucht. Auch hier erweckt die genaue
Beschreibung oft den Schein des Verständnisses. Wenn man nun
dem Blinden ein Object, z. B. einen Würfel, mit der Aufforderung
vorlegt, denselben zum Zweck einer genauen Beschreibung zu
betasten, bei welcher es sich um Angabe der Ecken-, Kanten-,
Flächenanzahl, der Größe und des Stoffes, aus welchem das Object
gefertigt ist, handelt, so ereignet es sich häufig, dass der Blinde
diese Bestimmungen successive von dem vorgelegten Object abliest,
ohne dass eine genaue Vorstellung dieser genauen Beschreibung zu
Grunde liegt. Der Blinde zählt nach der Reihenfolge der Frage¬
punkte die Zahl der Ecken, Kanten und Flächen, darauf nimmt er
die Maßbestimmung vor, wobei dem ungeübten Blinden die eng
aneinander gelegten Finger gleichsam als Maßstab dienen, zuletzt
überzeugt er sich durch den Klopfton oder durch besonderes Be¬
tasten von dem Stoff des Objectes, wenn auch diese Bestimmung