Volltext: Studien zur Blinden-Psychologie, Fortsetzung (11)

Studien zur Blinden-Psychologie. 
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nimmt die Analyse, die rasch bewegliche Rechte die Synthese. Die 
beiden Tastakte, welche im Anfang ein und derselbe Finger vor¬ 
zunehmen hatte, vertheilen sich nunmehr auf die rechte und linke 
Hand. Doch ist die Arbeitstheilung keine ganz strenge: nach den 
jeweiligen Bedürfnissen geht die Tastanalyse zuweilen in die Syn¬ 
these, die Synthese in die Analyse über. Wenn wir nun einen im 
Lesen der Kleinschrift sehr geübten Blinden beobachten, so zeigt 
sich, dass häufig eine Gleichartigkeit des Tastens beider Hände be¬ 
steht. Die Tastanalyse wird in übereinstimmender Weise zur Auf¬ 
fassung der Buchstabenformen benutzt. Dies könnte nun auf den 
ersten Anschein als Zeugniss gegen unsere oben aufgestellte Be¬ 
hauptung gelten. Aber es ist wohl zu beachten, dass die aus¬ 
schließliche Verwendung des analysirenden Tastens den Abschluss 
einer Entwicklung bedeutet, die wir schrittweise zu verfolgen Ge¬ 
legenheit haben. Aus einem früheren Beispiel wissen wir bereits, dass 
zwei Eindrücke, die häufig mit einander verbunden gewesen sind, 
dergestalt mit einander verschmelzen, dass in solchen Fällen, in 
welchen nur der eine durch unmittelbare Sensation erregt wird, auch 
der andere durch Reproduction sich hinzugesellt1). Wenn also der 
vorgeschrittene Blinde sich bei der Auffassung der Kleinschrift bloß 
mit dem analysirenden Tasten begnügt, so folgt daraus durchaus 
nicht, dass hierbei das Simultantasten nicht mehr in Betracht kommt. 
Da beide Eindrücke häufig mit einander verbunden waren, so ist 
der Blinde im Stande, den einen Bestandtheil der associativen 
Verschmelzung zu reproduciren, wenn der andere gegeben ist. 
Allerdings verhalten sich die beiden Eindrücke in Bezug auf ihre 
Reproductionsfähigkeit speciell bei der Klein’schen Schrift nicht 
völlig gleichartig: das analysirende Tasten, vielmehr der durch das¬ 
selbe hervorgerufene Successiveindruck, vermag zwar mit Leichtig¬ 
keit das Simultanbild zu reproduciren, nicht aber umgekehrt das 
Simultanbild den Successiveindruck. Dies beweist das obenerwähnte 
Experiment, in dem man dem Blinden die Möglichkeit gibt, das 
Schriftbild bloß mit dem Raumsinn der Haut aufzufassen, während man 
die Successivauffassung verhindert. Selbst in den Fällen der höchsten 
Entwicklung des Tastlesens sucht der Blinde dann eine Auffassung 
1) S. 427. Vergleiche Wundt, Phys. Psych. II (4. Aufl.) S. 37.
	        
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