Studien zur Blinden-Psychologie.
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sprechenden Größe der Schriftzeichen gelangt. Nichtsdestoweniger
pflegt man gerade den ersten Leseversuchen Buchstaben von der
Größe unserer gebräuchlichen Placatschrift zu Grunde zu legen
und die Zeichen dann continuirlich zu verkleinern, bis man zu der
normalen Schriftgröße gelangt ist. Wenn man auf diese Weise den
pädagogischen Grundsatz, dass stets vom Leichteren zum Schwereren
übergegangen werden solle, zu erfüllen hofft, so bleibt hier in der
That die Frage offen, welche Zeichen dem Blinden die größeren
Schwierigkeiten bereiten. Durch Excursionen des Fingers bei ru¬
hender Hand sind, wie leicht zu zeigen, jene großen Buchstaben
nicht abmessbar. Dennoch soll gerade an diesen die Lesestellung der
Hand eingeübt werden. Es ist gewiss sehr misslich, dem Blinden
gleich zu Beginn seines Unterrichtes Aufgaben zu stellen, die mit
den Bedingungen des Fastens in keiner Weise Übereinkommen.
Mehrere Blindenlehrer, die ich hierüber befragt habe, überschlagen
deshalb die in den Fibeln vorgedruckten großen Buchstaben und
beginnen sofort erfolgreich mit dem normalen Antiquaalphabet.
Bei der Auffassung der Schriftzeichen lassen sich zwei Arten
der Bewegung sehr deutlich unterscheiden. Die eine besteht in
Beugungen und Streckungen, die im Interphalangealgelenk des Tast¬
fingers ausgeführt werden, die andere nach vollführter Beugung in
eigenthümlich zuckenden Progressivbewegungen. Möglicherweise
hat die Beobachtung der letzteren Bewegungen, welche die continuir-
lichen Linien in eine Aufeinanderfolge von Punkten aufzulösen
streben, Barbier dazu veranlasst, den Klein’schen Punkt- vor
den Hauy’sehen Strichbuchstaben den Vorzug zu geben. Wozu
dienen nun den Blinden die Beugungen und Streckungen, dann die
Progressivbewegungen des Tastfingers? Auch hier treten uns jene
wichtigen Beziehungen des synthetischen und analysirenden Tastens
entgegen, die wir schon bei den allgemeinen Erörterungen über die
Raum Vorstellung des Blinden kennen gelernt haben, diesmal aber
in unverkennbarer Einfachheit und Deutlichkeit. Bei der Streckung
des Fingers berührt die Volarseite des dritten Fingergliedes den ge-
sammten Buchstaben. Hierdurch wird die Entwicklung eines sche¬
matischen Gesammtbildes ermöglicht, das zu seiner Verdeutlichung
die nachfolgende Tastanalyse erfordert. Durch die zuckenden Tast¬
bewegungen wird nun successive dieselbe engbegrenzte Hautstelle