Studien zur Blinden-Psychologie.
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Blinden ein neues günstiges Verkehrsmittel mit den Sehenden bietet,
die Nothwendigkeit besteht, die Klein’sehe Schrift im selben Um¬
fange zu üben wie in früheren Zeiten.
5. Das Lesen der Blindenschrift.
Beim Lesen der Blindenschrift ist bloß der Zeigefinger bethei¬
ligt. Wenn auch durch die eigenthümliche Fingerstellung bei man¬
chem Blinden der Schein entsteht, als ob sich auch die anderen
Finger bei der Auffassung der Schriftzeichen betheiligten, so lässt
sich in diesen Fällen durch Ausschaltung des Lesefingers, wodurch
der Zwang geschaffen wird, mit einem anderen z. B. dem Mittel¬
finger zu lesen, mit Sicherheit nachweisen, dass dieselben nur als
Stützorgane fungiren. Da beim Lesen der vorgeschrittenen Blinden
große Verschiedenheiten Vorkommen, so wird es am zweckmäßigsten
sein, zunächst das Lesenlernen zu beobachten und dann erst nachzu¬
sehen, wie und aus welchen Gründen sich die Leseweisen der hin¬
länglich geübten Blinden differenziren. Beim ersten Leseunterrichte
kommt hauptsächlich die rechte Hand in Betracht. Diese führt die
eigentlichen Lesebewegungen aus, während die linke Hand die Auf¬
gabe übernimmt, die Zeilen zu fixiren und der Rechten den An¬
fangspunkt ihrer Bewegung anzuweisen. Die Bewegungen, welche
den Zweck haben, die Hand in der Leserichtung zu verschieben,
erstrecken sich zunächst auf den ganzen Arm. Sobald aber die
schnellere Auffassung der Schriftzeichen nothwendig wird, beschrän¬
ken sich diese Bewegungen bloß auf den Unterarm, der sich um
den festliegenden Ellbogen bewegt und einen Kreisbogen beschreibt,
dessen Radius gleich ist der Verbindungslinie des Ellbogenstütz¬
punktes mit Anfang und Ende der Zeile, die in diesem Falle als
Sehne eines Kreisbogens vom Radius des Unterarmes aufzufassen
ist. Die horizontale Projection dieser Kreisbewegung erfolgt durch
wechselnde Stellung des Lesefingers, der seine Streckung, wenn
auch kaum merklich, in der Mitte der Zeile verringert, um dieselbe
am Ende der Zeile wieder anzunehmen. Die Unterstützung des
Unterarmes beim Lesen hat offenbar den Zweck, den Lesefinger
vollständig zu entlasten und ihm die Möglichkeit zu geben, einen
bestimmt regulirbaren Druck auf die Unterlage auszuüben. An der