Studien zur Blinden-Psychologie.
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namentlich wissenschaftliche Berufskreise eröffnet werden können,
welche ihm bis jetzt wegen der ungenügenden Mittel zum schrift¬
lichen Verkehr mit Sehenden verschlossen bleiben mussten.
Da weder die Klein- noch die Brailleschrift dem Blinden das
ziffernmäßige Rechnen ermöglichen, so sah man sich veranlasst,
hierfür besondere Schreibapparate zu construiren. Mit Hülfe der¬
selben wird häufig der Rechenunterricht in analoger Weise ertheilt
wie in den Elementarschulen der Sehenden. Den meisten Blinden
bietet aber die ziffernmäßige Darstellung der Rechenoperationen
keine Erleichterung, sondern eher eine Erschwerung ihrer Aufgabe.
Herr Dr. Meyer in Berlin hat sich ohne die Anwendung irgend
eines Rechenapparates die schwierigsten Capitel der Mathematik
zu eigen gemacht. Den minder begabten Blinden bieten derartige
Behelfe gleichfalls keine besonderen Vortheile, da die technischen
Schwierigkeiten derselben die Aufmerksamkeit der Schüler von ihren
eigentlichen Aufgaben ablenken. Demnach dürfte in den Blinden¬
schulen auf das Kopfrechnen das Schwergewicht zu verlegen sein
und dem ziffernmäßigen Rechnen nur eine untergeordnete Bedeutung
zukommen.
Der erste Rechenapparat für Blinde, welcher nur mehr ein
historisches Interesse hat, stammt von dem bekannten blinden
Mathematiker Saunderson'). Ein ziemlich großer Kasten war
durch Längs- und Querleisten in einzelne Fächer getheilt, in welche
Holzpflöckchen geschoben werden konnten, die an ihrem oberen
Ende die tastbar dargestellten Zahlzeichen enthielten. Auf diese
Weise war eine wechselnde Neben- und Untereinanderreihung der
Ziffern und somit eine mathematische Schreibweise möglich. Diesen
Rechenapparat behielt, allerdings in verkleinertem Maße, die ältere
Blindenpädagogik Jahrzehnte lang in Gebrauch. Die von Lach¬
mann 1857 erfundene Rechentafel stellt eine Combination des
Saun der so n’sehen Apparates mit einem der Brailleschrift verwand¬
ten Punktsystem dar1 2). Auch diese ermöglichte eine mathematische
Schreibweise nach Art der Sehenden, diente aber überdies noch der
1) Eine Abbildung desselben findet sich in Klein, Lehrbuch zum Unter¬
richte der Blinden, Wien 1819, Beilage I.
2) Lachmann, Die Blindentafel und die ektypographische Punktschrift,
Braunschweig 1857, S. 21 ff.