Studien zur Blinden-Psychologie.
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lieh, dass Tast- und Gesichtsraum trotz der Ungeheuern Unterschiede
ihrer Ausdehnung dennoch in formaler Beziehung übereinstimmen,
so grundverschieden auch das Empfindungsmaterial ist, aus welchem
dieselben bestehen, eine Thatsache, die sich vor allem darin kundgibt,
dass die Geometrie des Blinden dieselbe ist wie die des Sehenden.
4. Zur Geschichte der Blindenschrift.
Die Geschichte der Blindenschrift spiegelt deutlich die Ent¬
wicklung der gesammten Blindenpädagogik. Die Erfindung der
Punktschrift durch Louis Braille bewirkte einen bemerkens-
werthen Umschwung in der Blindenbildung, und Jahrzehnte lang
sah die letztere ihre vornehmste Aufgabe darin, ein den Tastver¬
hältnissen des Blinden entsprechendes Schriftsystem zu construiren,
wobei freilich alle diese Versuche schließlich dazu geführt haben,
die Brailleschrift in unveränderter Gestalt beizubehalten.
Schon lange bevor Valentin Hauy den von Maria Theresia
v. Paradies ausgesprochenen Gedanken einer allgemeinen Blinden¬
bildung praktisch verwirklichte, hatte es nicht an Versuchen gefehlt,
dem Blinden eine eigenthümliche tastbare Schrift darzubieten. Aus
dem Jahre 1580 stammt die erste Nachricht über eine derartige
Blindenschrift. Francesco Lucas wurde durch die Beobachtung
eines Bünden, welcher die schwach vertieften Zeichen eines starken
Druckes zu unterscheiden im Stande war, auf den Einfall gebracht,
ein Blindenalphabet aus Holztäfelchen herzustellen, in welche er
die verschiedenen Sehriftzeichen vertieft einschnitt1). Obzwar Lucas
berichtet, dass die Schrift nach kurzer Uebung von den meisten
Blinden mit Sicherheit gelesen wurde, gerieth diese Erfindung
dennoch völlig in Vergessenheit. In ihrer consequenten Weiter¬
bildung hätte dieselbe vielleicht frühe schon zu einer allgemein
brauchbaren Blindenschrift, der Grundlage eines geordneten Blinden-
1) Guillié, Essai sur l’instruction des aveugles, Paris 1817, S. 105. Eine
ganz ähnliche Blindenschrift, bei welcher die Zeichen in Wachstafeln gegraben
wurden, erfand Georg Phil. Harsdörffer, Nürnberg 1651, Delitiae Mathe-
maticae et Physicae, II. Theil. (Citirt nach A. Büttner, Beitrag zur Geschichte
der Blindenschriften, Organ der Taubstummen- und Blindenanstalten, XXII, S.78)