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Theodor Heller.
während der Blinde immer nur den zweiten oben erwähnten Weg,
nie jedoch oder nur gezwungen den ersten benutzt1). Diese Be¬
hauptung sucht Hocheisen durch eine Untersuchung des Lesens
der Blinden, die den Thatsachen nicht in hinreichender Weise gerecht
wird, zu erweisen.
In Bezug auf den ersten Weg ist es nun sehr zweifelhaft, ob
uns wirklich »die gegenseitige Lage und die Abstände unserer Haut
(soll wohl heißen Hautbezirke) genau bekannt sind«, so dass wir
daraus »auf die Gestalt und die Lage des Gegenstandes selbst
schließen«2). Zu einer derartigen Kenntniss gelangen wir erst durch
die physiologische Untersuchung, und derjenige, welcher von der
Existenz seines Raumsinnes keine Ahnung hat, ist ebenso zur
räumlichen Unterscheidung befähigt wie jener, welcher sich über
diese Verhältnisse auf das genaueste unterrichtet hat.
Wenn der Blinde in der That immer nur von dem zweiten
Wege Gebrauch machte, so wäre kaum einzusehen, wie derselbe
denn den Gegenstand in die Tastlage bringt. Das Object muss
zunächst erfasst werden, um in die dem räumlichen Tasten ent¬
sprechende Stellung zu gelangen. Und sollte diese Umfassung des
Gegenstandes, die sich schon aus mechanischen Gründen als noth-
wendig erweist, vom Blinden völlig unbeachtet bleiben? Für dieses
Verhalten wäre eine zureichende Ursache kaum aufzufinden. Eine
halbwegs eingehende Beobachtung, die freilich das verlangsamte
Tasten zunächst berücksichtigen muss, lässt vielmehr deutlich
erkennen, dass der Blinde die Gewinnung des Simultaneindruckes
durchaus nicht verschmäht. In Wirklichkeit sprechen nun die Er¬
gebnisse der Hocheisen’schen Untersuchungen in keiner Weise
gegen die Benutzung der beiden beim räumlichen Tasten möglichen
Wege von Seite des Blinden. Dass der Raumsinn der Haut keine
hochgradige Verfeinerung erkennen lässt, legt nicht etwa ein Zeugniss
dafür ab, dass das simultane Tasten beim Blinden überhaupt nicht
in Verwendung kommt, sondern bestätigt nur die Thatsache, dass
diese Tastart für sich allein nicht zur Entwicklung adäquater Raum¬
vorstellungen ausreicht.
1) Hocheisen, Der Muskelsinn der Blinden, S. 29f.
2) a. a. O. S. 31.