Stadien zur Blinden-Psychologie.
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durch lange Uebung mit ihr verbundene Gesichtsempfindung, so
dass wir keinen Theil des Körpers fühlen können, ohne ihn uns
zugleich durch das Gesicht zu denken«. Der Standpunkt Hagen’s
ist somit nahezu entgegengesetzt dem Condillac’s. Demnach
bewegt sich die empiristische Raumtheorie thatsächlich in einem
circulus vitiosus. In Bezug auf den Gesichtssinn behauptet die¬
selbe, dass wir uns die primitivsten räumlichen Vorstellungen mit
Hülfe des Tastsinnes verschafft hätten, ohne des Näheren zu erklären
woher dieselben stammen, die doch nicht ebenfalls durch die Er¬
fahrung bestimmt sein können. Hagen lässt nun die Tastvor¬
stellungen erst durch die Existenz eines Gesichtsraumes räumliche
Bedeutung gewinnen, er macht daher die Einflüsse der Erfahrung
in völlig entgegengesetzter Richtung geltend wie jene, welche den
Tastsinn für den fundamentalen Raumsinn angesehen hatten.
Wenn man annimmt, dass der Blinde bloß durch seine Tast¬
bewegungen zu einer Auffassung der räumlichen Verhältnisse der
Außenwelt gelangen kann, so ergibt sich als nothwendige Con-
sequenz, dass er auf diese Weise nur zeitliche, nicht aber räum¬
liche Vorstellungen zu entwickeln vermag. Würde eine Reihe bloß
intensiv abgestufter Empfindungen die Nöthigung zu einer räum¬
lichen Ordnung enthalten, dann müsste man, wie schon Lotze
gegen die Herbart’sehe Theorie anfühTt, sich auch die Tonscala
räumlich vorstellen können1). Es bedeutet demnach einen offen¬
baren Widerspruch, wenn behauptet wird, dass sich die Raumvor¬
stellungen des Blinden lediglich auf Tastbewegungen gründen.
Diesen Ansichten hat sich in neuerer Zeit auch Hocheisen
angeschlossen. Zwei Wege können — nach Hocheisen — beim
räumlichen Tasten eingeschlagen werden. Der erste ist folgender:
das Object kommt mit der Haut in Berührung und hinterlässt
einen Abdruck auf derselben. Der zweite Weg entspricht der schon
früher dargelegten Tastart2). Aus der Größe und Richtung der
vollführten Bewegungen wird auf Größe und Gestalt des Gegen¬
standes geschlossen. Nach der Meinung Hocheisen’s kommen
nun beide Wege vereint beim Tasten des Sehenden in Rücksicht,
1) Lotze, Wagner’s Handwörterbuch d. Physiol. Ill S. 177.
2) S. 413 ff.
Wundt, Philos. Studien. XI.
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