Volltext: Studien zur Blinden-Psychologie, Fortsetzung (11)

Studien zur Blinden-Psychologie. 
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Eingang gefunden1). Wäre jedoch Platner’s Ansicht richtig, so 
müsste eine allgemeine Blindenbildung fast als ein Ding der Un¬ 
möglichkeit erscheinen. Wie sollte der Blinde Vorstellungen befrie¬ 
digender Art -von den umgebenden Objecten gewinnen, wie sollte 
er über ihre räumlichen Verhältnisse etwas aussagen können, ohne 
die Fähigkeit, irgend eine räumliche Beziehung aufzufassen? Die 
Thatsachen, dass Blinde sich geometrische Kenntnisse aneignen 
können, dass auch Beispiele zu verzeichnen sind von Blindgeborenen, 
die in der Nachbildung plastischer Objecte nicht Unbedeutendes 
leisteten, widerlegen Platner’s Behauptung zur Genüge2). Aber 
selbst in dem Falle, dass Platner’s Beobachtungen als völlig 
richtige anzuerkennen wären, hätte der Leipziger Philosoph einen 
schweren Fehler dadurch begangen, dass er nach den Beobachtungen 
an einem Individuum einen Schluss auf das psychologische Ver¬ 
halten aller anderen Blinden zu machen sich für berechtigt hält. 
Der analoge Fehler ist in der Folgezeit wiederholt begangen worden: 
häufig hat man die Ergebnisse der Beobachtung an einem Blinden 
auf die Gesammtheit aller Blinden ausgedehnt. Die Bedingungen 
des räumlichen Tastens sind aber nicht derart in der Organisation 
angelegt, wie dies in Bezug auf die Verhältnisse des Sehens bei 
allen Normalsichtigen der Fall ist. Die Schärfung des extensiven 
Unterscheidungsvermögens, die zweckmäßige Anordnung der Tast¬ 
bewegungen, kurz die Bedingungen jeder präcisen räumlichen Auf¬ 
fassung durch den Tastsinn sind ein Product der individuellen 
Entwicklung. Beim Tasten tritt nahezu das umgekehrte Verhältniss 
ein wie bei der Auffassung der Objecte durch den Gesichtssinn. 
Hier sind die physiologischen Bedingungen des Sehens in erster 
Linie bestimmend für die Auffassung der Objecte3), dort gibt die 
Beschaffenheit der Objecte die Bedingungen an, unter welchen sich 
1) Höffding, Psychologie, deutsch von Bendixen, Leipzig 1887, S. 248. 
2) Möglicherweise sind Platner’s Ansichten zum Theil zurückzuführen auf 
seinen Widerspruch gegen die Aprioritätslehre Kant’s. Vergl. Max Heinze, 
Ernst Platner als Gegner Kant’s, Univ.-Programm Leipzig 1880, S. 15. Es ist 
klar, dass, wenn der Raum thatsächlich eine a priori »im Gemüth bereit liegende« 
Anschauungsform wäre, der Blinde seine Empfindungen ebenso ursprünglich in 
eine räumliche Ordnung bringen müsste wie der Sehende. 
3) Wundt, Phys. Psych. II (4. Aufl.; S. 169.
	        
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