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Theodor Heller.
3. Die Entwicklung des Tastraumes.
Ueber die Raumvorstellung des Blindgeborenen sind zahlreiche
Behauptungen aufgestellt worden, die einander oft geradezu wider¬
sprechen und weniger auf directen Beobachtungen, als vielmehr auf
Schlüssen beruhen, die man nach einer mehr oder minder gründ¬
lichen Analyse des Tastsinnes, welche überdies zumeist von den
Verhältnissen der Sehenden ausging, zu machen sich für berechtigt
hielt. Hierbei wurden häufig gewissen apperceptiven Thätigkeiten,
wie der Aufmerksamkeit und der Phantasie, Eigenschaften zuge-
sohrieben, die denselben den Charakter von besonderen Seelenkräften
verleihen, welche die Vorstellungswelt des Blinden über die Grenzen
jeder Wahrnehmungsmöglichkeit hinaus erweitern sollen.
Extrem entgegengesetzt der von der älteren Blindenpädagogik
vertretenen Ansicht, dass ein Parallelismus zwischen Tast- und
Gesichtsraum in der Weise existire, dass jeder Vorstellung, welche
der Sehende durch das Gesicht erhält, unter Umständen auch beim
Blinden eine extensive Vorstellung entsprechen könne, ist die Be¬
hauptung des Leipziger Philosophen und Arztes Ernst Platner,
der dem Blinden jedwede Raumvorstellung abspricht. »Was die
gesichtslose Vorstellung von Raum oder Ausdehnung betrifft, so hat
mich die Beobachtung und Untersuchung eines Blindgeborenen, die
ich drei Wochen lang fortgesetzt, auf’s Neue überzeugt, dass der
Gefühlssinn für sich allein alles dessen, was zu Ausdehnung und
Raum gehört, durchaus unkundig ist, nichts von einem örtlichen
Auseinandersein weiß, und, um es kurz zu fassen, dass der gesichts¬
lose Mensch gar nichts von der Außenwelt wahrnimmt, als das
Dasein von etwas Wirkendem, was von dem dabei leidenden Selbst¬
gefühl unterschieden sei — und im übrigen bloß die numerische
Verschiedenheit, soll ich sagen der Eindrücke oder der Dinge1)?«
Diese Behauptung Platner’s, welche um so vager erscheint, als
derselbe nicht angibt, welcher Art die von ihm angestellten Be¬
obachtungen waren, hat auch in neueren psychologischen Werken
1) Ernst Platner, Philosophische Aphorismen, I, Leipzig 1793, S. 446f.