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Theodor Heller.
dass man diese Blinden häufig zu einer planmäßigen Betastung
größerer Objecte spontan veranlassen kann, wenn man ihnen ver¬
kleinerte Modelle vorlegt und sie zu einer vergleichenden Messung
von Original und Modell auffordert. Sind diese Uebungen durch
längere Zeit und an mehreren Objecten vorgenommen worden, so
bleibt den Messungen im weiteren TastTaum ihr planmäßiger Charakter,
der Blinde construirt dabei in der Phantasie gleichsam ein Modell
des betreffenden Gegenstandes1).
Die hohe Bedeutung, welche der Beziehung zwischen weiterem
und engerem Tastraum, die wir kurz als Tastraumzusammenziehung
kennzeichnen können, zukommt, hat ihren Ausdruck gefunden in
der Geschichte des Anschauungsunterrichtes in den Blindenschulen.
Man hatte in früherer Zeit geglaubt, dem räumlichen Vorstellen
dadurch eine besondere Unterstützung zu gewähren, dass man größere
Modelle von Objecten, die außerhalb der Tastmöglichkeit des Blinden
gelegen sind, dem weiteren Tastraum entsprechend anfertigte. Diese
Modelle bewährten sich jedoch in der Praxis des Blindenunterrichtes
nicht, und schon G u il lié meint, dass man dem Blinden auf diese
Weise ähnlich zu helfen suche, wie dem Tauben, dem man durch
Anwendung starker Geräusche etwa das Hören beibringen wollte2).
So haben denn in neuerer Zeit rein praktische Bedürfnisse dazu
geführt, die dem Anschauungsunterricht zu Grunde liegenden Modelle
stetig zu verkleinern, wenn man auch lange noch nicht allseitig dazu
gelangt ist, dieselben der doppelten Möglichkeit des synthetischen
und analysirenden Tastens entsprechend zu gestalten. Dass dies in
der That erforderlich ist, lassen jene Modelle erkennen, welche
Blinde selbstthätig angefertigt haben. Wir haben schon früher Ge¬
legenheit gehabt, auf die Bedeutung des Modellirens für die Vor-
stellungscontrole der Blinden hinzuweisen. Eine neue wichtige
Seite dieser Disciplin lernen wir jetzt kennen: sie dient auch dazu,
den Blinden zur Entwicklung präciser Raumvorstellungen, denen
nothwendig der Charakter der Simultaneität zukommen muss, zu
1) Diese Versuche wurden in der Wiener Blindenanstalt auf Veranlassung
des Directors S. Heller von Herrn Lehrer Lasch vorgenommen und haben fast
ausnahmslos zu günstigen Resultaten geführt.
2} G u i 11 i é, Essai sur l’instruction des aveugles, übers, v. K n i e, Bresl. 1820, S.105.